Verloren gegangen – Katharina Hartwell "Das fremde Meer"

„Das Leben ist ein raues, ein stürmisches, ein gefährliches, ein unendlich weites, ein wildes, viele Geheimnisse und viele Gefahren und viele Riffe beherbergendes Meer. Und es gibt nicht viele milde Tage, und es gibt viele Möglichkeiten, Schiffbruch zu erleiden. Und auf jeden Sturm folgt der nächste und auf jede Untiefe eine weitere.

Eine immer währende Sicherheit im Leben gibt es nicht. Nur der Glaube daran existiert und lässt uns vergessen, welche Schicksalsschläge und Katastrophen möglich wären. Nur so können wir jeden Tag vor die Haustür treten, jeden Tag am Abend einschlafen. Ständige Gedanken an das Nichts, an Verluste, an den Tod würden uns die Luft zum Atmen nehmen. Über diesen allmächtigen Moment des Schicksalsschlages. der einen den Boden unter den Füßen wegreißt, hat Katharina Hartwell den Roman „Das fremde Meer“ geschrieben – besser gesagt: zehn Geschichten, die sich jedoch wie ein Mosaik zusammenfügen, um das große Bild zu erschaffen. Dazu später mehr. Marie ist eine Einsiedlerin. Auch wenn sie eine Mutter und eine Schwester hat, die ihr Leben mal mehr mal weniger begleiten. Im Grunde genommen schlägt sie sich allein durchs Leben, ohne bisher der Liebe begegnet zu sein. Marie schreibt an ihrer Doktorarbeit, als sie in der Bibliothek Jan begegnet. Der bleibt dort im Fahrstuhl stecken und fällt wenig später, bei dem Versuch sich zu befreien, direkt auf Marie. Von da an wirken Kräfte, die sie zusammenbringen und aneinanderbinden.

Doch diese wundersame Begegnung findet der Leser erst nach eben jenen zehn Geschichten, die alle eine ganz ähnliche Story erzählen: Es geht um eine Welt, die zerfließt und in Bewegung ist, zwei Menschen, die sich begegnen, und den Verlust, den einer zu bewältigen hat, sowie die Suche nach dem anderen, wo immer er auch zu sein scheint. Da ist beispielsweise die Prinzessin, die im Winterwald nach dem im Turm gefangen gehaltenen Prinzen sucht, da ist Moira, die in der Wechselstadt auf Jonas trifft und ihn in diesem Chaos aus verschwindenen Häusern, Straßen und Menschen wieder verliert. An Bord des Luftschiffes werden Nachtkranke wie Jakob behandelt. In einer Geisterfabrik werden die Toten von ihrer Seele, der Spiritmaterie, getrennt. In der Psychiatrie treffen Augustine und Jaques als Patienten aufeinander und planen die Flucht.

Mit dem letzten Kapitel, mit dem der Leser wieder Marie und Jan begegnet und ihr Leben ein Stück begleitet, wird das Rätsel der mysteriösen und mystischen Geschichten gelöst. An dieser Stelle sei nicht verraten, wie das letzte Mosaiksteinchen gestaltet ist. Jeder sollte selbst den Roman zur Hand nehmen und ihn zu Ende lesen, mit ihm lachen und mit ihm weinen. Denn genau auf diese Berg-und-Tal-Bahn der Gefühle entsendet uns die junge Autorin, die, 1984 geboren, am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert hat. Ihr Roman hat all das, was man in der deutschen Literatur oft vermisst und was vor allem eine Schar junger Autoren in den vergangenen Jahren so elegant gelingt: anders schreiben. Obwohl dieses Wort „anders“ so klein und unscheinbar daherkommt, braucht es Courage, um es auch literarisch umzusetzen. Anders ist Hartwells Werk deshalb, weil sie die Grenzen des Romans auflöst, den roten Faden einer vertraut erscheinenden Erzählzeit kräftig durcheinanderwirbelt und geschickt mit Genres und Stilen umzugehen weiß. Sie wechselt Erzählperspektiven, schreibt ein Märchen, dann eine wissenschaftliche, mit Fußnoten versehene Abhandlung.

Alle Geschichten verbinden jedoch Gemeinsamkeiten: Sie alle scheinen an einem Ort zu spielen, der aus der Zeit gefallen ist. Die Motive des Meeres und des Schiffes sowie das plötzliche Zerfließen eines Ortes und etwas Bedrohliches finden sich in jeder Geschichte. Auch das Erzählen und Erinnern spielen thematisch eine große Rolle. Immer wieder steht zudem eine Person im Mittelpunkt, die aktiv eine andere in Bewegung setzen will. Beide verbindet eine nahezu unbeschreibbare Kraft.


Ihre Wörter und Passagen scheint Hartwell aus der Tiefe der Sprache zu holen und mit großem poetischen Vermögen zusammenzuführen. Zudem spielt sie wundervoll mit den Erwartungen und dem Gespür des Lesers, der im Verlauf der zehn Geschichten schon irgendetwas Bedrohliches und Trauriges ahnt, aber trotzdem gefesselt bleibt.
Am Schluss klappt man das Buch nachdenklich und mitgenommen zu. Denn ein Verlust hat dem großen Glück ein vorzeitiges Ende gesetzt. Wie die Autorin diesen Moment beschreibt, auch dieses schmerzhafte Gefühl, dass trotz der persönlichen Katastrophe die Welt sich weiterdreht, ist große Kunst. Bleibt zu hoffen, dass ihr plötzliches Auftauchen mit diesem Debüt nicht ein einmaliges Erlebnis bleibt.

Der Roman „Das fremde Meer“ von Katharina Hartwell erschien im Berlin Verlag und ist seit kurzem auch als Taschenbuch erhältlich.
576 Seiten, 10,99 Euro

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