„(…) ich wollte so sehr erhört werden, erprobte meine Zunge, meine Sprache, ich versuchte, die Geschichten zu erzählen, sie in mein fremdes Deutsch zu übertragen, ich erzählte die Geschichten, eine nach der anderen, aber ich hörte selbst nicht, was ich sagte.“
Unser Leben ist nichts ohne die Geschichte der eigenen Familie. Wir sind, was wir waren. Uns formen frühere Ereignisse früherer Generationen genauso wie eigene Erfahrungen. Und wenn wir in jungen Jahren nur Zuhörer sind, werden wir später selbst zu Erzählern. Katja Petrowskaja, 1970 in Kiew geboren, nach ihrem Studium in Tartu (Estland) und Moskau als Journalistin in Berlin tätig, hat diese Rolle sehr früh übernommen. Es ist eine Rolle, die man nicht leichtfertig überstreift wie einen Lieblingspullover, der einem passt und der sich bequem anfühlt. Sie ist vielmehr eine Schlangenhaut, die mit uns wächst und die man nach einiger Zeit abstreift, weil eine neue entstanden ist. Katja Petrowskaja war auf den Spuren ihrer Familie. Sie reiste durch Europa, besuchte ihre Geburtsstadt Kiew und Warschau, die düsteren Orte Auschwitz und Mauthausen. Sie führte Gespräche, suchte Archive auf und erzählt – über die Großmutter ihres Vaters, vielleicht Esther mit Namen, die im September 1941 von deutschen Soldaten mit kühler „Routine“ auf der Straße erschossen worden war, als andere Familienmitglieder, so Anna und Ljolja, die Urgroßmutter und die Großtante der Autorin, während des zweitägigen Massakers in der Kiewer Schlucht Babij Jar ebenfalls ermordet wurden. Da ist auch Judas Stern, ein Großonkel, der nach einem Attentat auf einen deutschen Botschafter 1932 hingerichtet wurde, und Großvater Wasja, der in deutsche Kriegsgefangenschaft geriet. Vor allem ist es jedoch die Geschichte von Simon und Ozjel, die Waisenhäuser für taubstumme Kinder geführt hatten. Später betreute Großmutter Rosa Kinder, die während der Belagerung Leningrads in Sicherheit gebracht worden waren.
Die Autorin hat tief gegraben. Ihr Weg führte sie in das Leben mehrerer Generationen ihrer Familie jüdischer Herkunft, in eine „verlorene Welt“. Sie berichtet dabei nicht chronologisch, sondern in zahlreichen Geschichten, die miteinander verwoben sind und die ein einzigartiges Mosaik, einen literarischen Quilt aus vielen Gesichtern und Schicksalen bilden. So entstand kein Zeitstrahl, der in nur eine Richtung führt, sondern ein Gewebe, das in viele Richtungen wächst und ausreichend Platz bietet für andere Fragen und Exkurse. Stilistisch wandelt die Autorin auf vielen Feldern. Sehr oft vermischt sie reportagehafte Beschreibungen und Rückblicke mit selbstreflexiven Betrachtungen.
Entstanden ist ein wahres Meisterwerk, das nicht nur die Leidenschaft der jungen Frau für die Geschichte ihrer Familie spüren lässt. Das Buch macht den Leser ungemein betroffen. Petrowskaja gelingt es auf eindrucksvolle Art, die Gewalt und Niedertracht, die Unmenschlichkeit und maschinelle Vernichtung vor Augen zu führen. Nicht mit einem erhobenen Zeigefinger oder der Forderung nach einem Geschichtsbewusstsein, sondern vielmehr als Nachfahrin von Opfern. Zwischen einem lockeren, manchmal sogar ironischen Plauderton mischt sich die dunkle Melancholie angesichts der Schicksale. Immer wieder findet sich die allzu menschliche Frage, was wäre wenn, versucht sie gegen die Stummheit in der Familie eine eigene Stimme zu finden. Vor allem ihrem Verhältnis zur fremden deutschen Sprache und ihrer Beziehung zur russischen Muttersprache widmet sie Zeit und Raum.
„Vielleicht Esther“ ist ein Buch, das nicht nur Fragen zu einer angemessenen Erinnerungskultur aufwirft, sondern auch das Thema Kommunikation zwischen den Generationen hinterfragt und in diesem Rückblick auf die Geschichte der Familie zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Person führt. Und nicht nur diese Vielschichtigkeit des Buches ist erstaunlich. Sprachlos macht einen vor allem die intensive Sprache der Autorin, die die deutsche Sprache erst erlernt hat. So wie sie sich in die Geschichte ihrer Vorfahren vergraben hat, suchen sich ihre Geschichten einen Weg in die Seele des Lesers, um dort zu bleiben. Dass Katja Petrowskaja mit ihrem Buch den renommierten Bachmann-Preis gewonnen hat, belegt in weiterer Form die Intensität dieses herausragenden Werkes.
„Vielleicht Esther“ von Katja Petrowskaja erschien im Suhrkamp Verlag.
285 Seiten, 19,99 Euro