Zugeständnisse – Stephan Thome "Gegenspiel"

„Was sie wirklich die ganze Zeit machte, war, davon zu träumen, etwas anderes zu tun.“

Manchmal findet sich auch in Popsongs ein wenig Philosophie. Wie heißt es da ab und an so schön: „There’s always two sides of every story.“ Selbst der große, von mir sehr geschätzte Phil Collins nannte einen Titel und sein fünftes Album „Both Sides“. Auch Stephan Thome hat sich den beiden Seiten einer Geschichte gewidmet. Besser gesagt: den zwei Seiten eines gemeinsamen Lebens. Nach seinem 2012 erschienenen Roman „Fliehkräfte“ über Hartmut Hainbach, Professor für Philosophie, der während einer Pilgerreise auf Sinnsuche geht, beschreibt Thome nun die andere Seite der Geschichte und ihre Geschehnisse – aus der Sicht von Hainbachs Frau Maria. Und dabei taucht der Leser tief hinab in das frühere Leben der interessanten Protagonistin. 

Maria stammt aus Portugal. Als Jugendliche hat sie in den 70er Jahren die politischen Umbrüche und wirtschaftliche Instabilität ihres Heimatlandes miterlebt. Als junge Frau zieht es sie schließlich nach Deutschland, um Theaterwissenschaften zu studieren. In Berlin lernt sie Falk kennen, der ambitioniert modernes Theater betreibt. Die beiden werden ein Paar, bis Falk seinen Götzen, den legendären Dramatiker Heiner Müller, nach Gelsenkirchen folgt. Maria macht Bekanntschaft mit Hartmut, eine Liebe beginnt, die spätere Ehe folgt, Tochter Philippa kommt zur Welt. Auf diese Zeit blickt Maria nun zurück, die sich nach Jahren des beruflichen Leerlaufs entschieden hat, wieder erfolgreich zu sein und Theater zu machen. Wieder zusammen mit Falk, wieder in Berlin. Hartmut bleibt in Bonn zurück, die Tochter komplettiert das geografische Familiendreieck mit ihrem Weggang nach Hamburg. Und nicht nur dieses räumliche Auseinanderleben fordert seinen Tribut, in der Familie und Ehe kriselt es gewaltig.

Um all diese Zeitebenen dem Leser vor Augen zu führen, setzt Thome geschickt Zeitsprünge ein, um Jahre und Jahrzehnte zu überbrücken, die Ereignisse zu einem Netz zusammenzuführen. Schnell hat sich der Leser an diese Zeitreisen gewöhnt. Dabei ist es vor allem faszinierend, wie Thome nicht nur die Erlebnisse seiner Gestalten beschreibt, sondern geschickt historische Ereignisse, politische Zustände und kulturelle Entwicklungen drumherum drapiert. Nicht nur finden sich in diesem Roman interessante Einblicke in das schwierige Ost-West-Verhältnis und die Szene Kreuzbergs, sondern auch in die spätere Wendezeit. Zugleich werden das westdeutsche Theaterleben und die deutsche Hochschulpolitik beleuchtet.

„Keiner hat verstanden, dass die Bedeutung in dem liegt, was nicht passiert. Wenn ich ehrlich bin, verstehe ich es auch nicht, aber es hat mit der Zeit zu tun.“

Diese gesellschaftlichen Begleiterscheinungen, in denen bekanntlich jeder Mensch ein Teil ist, bilden im großen und ganzen Gegenspiel beider Protagonisten, Hartmut versus Maria, die Kulisse. Das große Stück des Dramas ist das Innenleben der Heldin. Und gerade dabei beweist sich Thomes neuestes Werk als Geniestreich. In jedem einzelnen Lebensabschnitt Marias gestaltet er ihren Charakter, offenbart Wünsche und Hoffnungen wie auch intime Geheimnisse, die nach und nach ans Tageslicht kommen. Doch über all die Jahre hinweg ist sich Maria ihren Lebenserwartungen treu geblieben – wenn sie diese auch nicht vollständig in die Realität umsetzen konnte. Allzu sehr haben Zugeständnisse, Kompromisse und Arrangements die Vorstellungen vom eigenen, von Freiheit bestimmten Leben an den Rand geschoben. Gegenseitige Beschuldigungen und eine fehlende Kommunikation innerhalb der Ehe erschweren das Zusammenleben, bis eben jener Bruch der Familie nach vielen Jahren geschehen musste. Auch die Schwierigkeiten, in einem anderen Land fern der Heimat zu leben, spiegeln sich deutlich in der Person Marias wider.


Wie Thome all das lebensnah, aber auch tiefgründig wie vielschichtig erzählt, verlangt höchsten Respekt. Gerade von modernen Frauen, die sich in den Romanen anderer Autoren wohl noch nie so verstanden gefühlt haben. Wenn die lebendigen Dialoge mit Anleihen aus dem Berlinerischen sowie manch ironische Anspielung für Erheiterung sorgen, werden die intensiv beleuchteten Gedanken und die heftig geführten Auseinandersetzungen der Protagonisten das Nachdenken und Mitfühlen des Lesers fordern. Vor allem auch der Schluss des Buches, der mehrere Deutungen zulässt. Als Leser beider Romane möchte man jetzt die anfangs geschilderte Alltagsweisheit von den zwei Seiten der Geschichte wieder vergessen und inständig um Teil drei bitten. Denn sicherlich hat auch die Tochter Philippa viel zu erzählen. Und keiner als Thome könnte dies besser formulieren.

Der Roman „Gegenspiel“ von Stephan Thome erschien im Suhrkamp Verlag.
464 Seiten, 22,95 Euro

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