„Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich.“ Franz Kafka
Er war ein leidenschaftlicher Schwimmer, liebte das Kino, mochte Indianergeschichten. Er hat auch nicht das Nachtleben in seiner Heimatstadt Prag verschmäht. Ganz im Gegenteil. Manchmal ging er auch zu den „leichten Mädchen“. Viele sehen womöglich, wenn sie den Namen Franz Kafka hören, einen schmalen Mann vor sich, der Tag und Nacht, über den Schreibtisch gebeugt, schreibt – ohne Unterlass. Zugegeben, Kafka war wirklich recht dünn. Das beweisen die historischen Fotografien, die ihn zeigen. Doch der am 3. Juli 1883, an einem schönen Sommertag in Prag zur Welt gekommene Schriftsteller liebte trotz einer nicht gerade fröhlichen Kindheit und gesundheitlichen Problemen sowohl das Leben als auch das Schreiben. Nur hatte er tragischerweise nur 40 Jahre Lebenszeit.
Im 90. Todestag des wohl neben Goethe bekanntesten und meist gelesenen deutschsprachigen Autors veröffentlichte der Fischer-Verlag im Herbst 2014 den dritten Band der Kafka-Biografie des Literaturwissenschaftlers Reiner Stach mit dem Titel „Kafka. Die frühen Jahren“. Nach den beiden vorherigen Bänden „Kafka. Die Jahre der Entscheidungen“ (2002) und „Kafka. Die Jahre der Erkenntnis“ (2008), die zusammen die Zeit zwischen 1912 und 1924 beleuchten, erzählt Stach nun von der Kindheit, Jugend und den Jahren des jungen Mannes und räumt mit einigen falschen Vorstellungen und Mythen gründlich auf.
Das Wort „erzählen“ ist hier ganz bewusst gewählt. Denn Stachs Biografie ist alles andere als ein von trockenen Beschreibungen und Aufzählungen von Daten und Fakten gesättigtes Werk, durch das man sich mit Geduld und Konzentration quälen muss und das man irgendwann ermüdet zur Seite legt, um schließlich unter einem Stapel zu verschwinden und in Vergessenheit zu geraten. Zwar finden sich in den einzelnen Kapiteln anspruchsvolle Erläuterungen mit einer Vielzahl an Fach- und Fremdwörtern. Doch der Kafka-Experte bevorzugt meist das stimmungsvolle und plastische Schildern von Szenen und Lokalitäten, von Begegnungen und Geschehnissen. Vor dem Auge des Lesers ziehen Bilder vorbei, werden so die damalige Zeit und Orte lebendig. Der Leser taucht ein und wird ein Teil der Szenerie. Ein ungeheurer Sog entsteht während der Lektüre.
Rund um die Person Kafkas erschafft Stach, 1951 im sächsischen Rochlitz geboren, anschaulich eine einzigartige Kulisse. Das ist vor allem Prag, die geschichtsträchtige Stadt an der Moldau, der österreichisch-ungarischen Monarchie zugehörig. Hier treffen nicht nur mit den Deutschen und Tschechen zwei verschiedene Kulturkreise und Mentalitäten aufeinander. In Prag lebt auch eine Vielzahl Juden. Konflikte verschiedener Art sind vorprogrammiert. Der Judenhass ist spürbar. Und hier wird auch Kafka hineingeboren, als Sohn des jüdischen Galanterie-Händlers Hermann Kafka und seiner Frau Julie. Die weiteren biografischen Eckdaten sind bekannt: Nach der Schule folgt das Jura-Studium, das er mit Promotion abschließt. Er wird Angestellter der Versicherungsgesellschaft „Assicurazioni“, später der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt. In diese Zeit fallen auch die ersten veröffentlichten Werke.
Doch Kafkas Schreiben ist ohne dessen Erfahrungen, Erlebnissen, Lektüren und die Menschen, die ihn umgaben, nicht denkbar. Sie formen bekanntlich den Menschen an sich. Stach widmet sich im gesamten Buch deshalb auch den verschiedenen Einflüssen: dem Elternhaus und der Schule, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Strömungen, dem wirtschaftlichen Aufbruch und der technischen Revolution, vor allem aber den Freunden, mit denen Kafka Teil eines literarischen und kulturellen Kreises war, mit denen er zudem prägende Reisen unternommen hatte. Allen voran: Kafkas Freund, engster Vertrauter und Förderer Max Brod. Der Biograf wirft dabei ein klares, aber auch kritisches Licht auf diese besondere Freundschaft.
Darüber hinaus ist dieses Werk besonders interessant, wenn innerhalb dieses wunderbaren Panoramas der damaligen Zeit der Wissenschaftler nicht nur in das Umfeld und die Weite schaut, sondern anhand der hinterbliebenen Schriften, Texte und Briefe – und das ist eine riesige Menge, der Fußnoten-Apparat nebst Literaturverzeichnis umfasst rund 100 Seiten – über das Innenleben und die Vorlieben Kafkas berichtet. Eine Form seelischer Biografie ensteht: Da sind die Versagensängste in der Kindheit und Jugend, die schon im frühen Alter gefühlte Einsamkeit, das versuchte Aufbäumen unter dem gestrengen Vater. Später kommt jene Gedankenwelt hinzu, die sein Leben und Werk hauptsächlich beeinflussen wird. Der Versuch, das Schreiben als existenzielle Ausdrucksform anzuerkennen und zu verwirklichen. Ein literarisiertes Leben zu führen, den gestalterischen Blick auf die Tiefen des Daseins zu lenken. Damit schaffte Kafka den Sprung auf eine gedanklich weit höhere Ebene als andere Autoren vor und nach ihm. Und diese nahezu philosophischen Ausführungen sind ungemein spannend zu lesen.
„ER WOLLTE LERNEN, ER WOLLTE VERSTEHEN, AUF WELCHE WEISE KUNSTWERKE HÖCHSTEN RANGES AUS ÄUSSERLICH UNSCHEINBAREN LEBENSUMSTÄNDEN HERVORGEHEN.“
Stach, der seit Mitte der neunziger Jahre an der dreibändigen Biografie gearbeitet hat, fordert indes nicht nur das Nachdenken heraus. Er setzt zeitweise besondere humorvolle Zeichen, schreibt so nicht nur mit Kopf, sondern auch mit Seele, Herz und einem gewissen Augenzwinkern. Doch an einigen Stellen weist er auch immer wieder auf das Tragische dieser besonderen Schriftsteller-Figur: der allzu frühe Tod, die somit nicht möglichen weiteren Werke und Lebenserfahrungen. Darüber hinaus liegt die Tragik im späteren Schicksal der Familie Kafka. Alle drei Schwestern Elli, Valli und Ottla starben während des Holocaust in Konzentrationslagern. Ein düsteres Kapitel, auf das in einem der früheren Bände eingegangen wird und das sehr melancholisch stimmt.
Mit dem Werk, das sich wegen dieses unvorstellbaren Fleißes und der herausragenden Qualität nicht vor dem Titel Lebenswerk scheuen sollte, gewinnt der Leser nicht nur unzählige Eindrücke aus dem Leben Kafkas und Erläuterungen für dessen erste literarischen Arbeiten. Kafka wird zu einem facettenreichen Menschen, den man gut zu kennen scheint, der der liebenswürdige, vielleicht etwas schrullige, aber vor allem ungemein begabte Nachbar sein könnte. Diese Nähe zwischen Leser und der berühmten Figur nebst ihrer Lebenswelt fasziniert und erstaunt. Und diese enge Bindung ist es, die Stach mit seinem grandiosen Buch so überaus gelungen ist und für das jeder Buch- und Literatur-Fan so unendlich dankbar sein sollte.
Der Band „Kafka. Die frühen Jahre“ von Reiner Stach erschien im S. Fischer-Verlag.
608 Seiten, 34 Euro