„Ich werde ganz klar im Kopf, morgenlichtklar. Universum hier, Isa hier, alles, wo es hingehört. Ich denke nicht nach. Ich schlafe.“
Husch, plötzlich ist sie weg. Isa hat sich aus dem Staub gemacht. Durch das große Eisentor hindurch. Ein Lkw sei dank. Die Anstalt lässt sie kurzerhand hinter sich. Die Welt da draußen ist spannender. So macht sich Isa auf, die Welt zu entdecken. Barfuß. Viele kennen sie bereits. In „Tschick“, dem großen, weil so witzigen wie ernsten Roman von Wolfgang Herrndorf, hat sie an der Seite von Maik und Andrej bereits Geschichte geschrieben. Nun ist sie wieder zurück und füllt selbst ein ganzes Buch. Das, so die ebenfalls traurige und wahre Geschichte, unvollendet blieb. Wolfgang Herrndorf setzte am 26. August 2013 seinem Leben selbst ein Ende. Mehrere Jahre litt er unter den Folgen eines bösartigen Hirntumors.So erschien „Bilder deiner großen Liebe“ posthum. Unvollendet, weil sich keiner gefunden habe, der dieses Werk zu Ende schreiben wollte, wie die beiden Herausgeber Marcus Gärtner und Kathrin Passig in ihrem Nachwort zur im Rowohlt-Verlag erschienenen Ausgabe anmerken. Herrndorf wollte sein Werk selbst vollenden. Auf seinem Blog, der später unter dem Titel „Arbeit und Struktur“ ebenfalls posthum als Band veröffentlicht wurde, erzählt der Autor von der Arbeit an seinem Buch. So liest man es nicht ohne an sein Schicksal zu denken, sein Leben mit seinem Werk zu verbinden.
Erzählt werden die Erlebnisse von Isa selbst, der Ungezügelten, der Verrückten, der Ladendiebin, die eines Tages eben aus dem Irrenhaus entkommen kann. Sie begibt sich auf Wanderschaft (oder sollte man Flucht sagen?), erlebt die ganze Vielfalt möglicher Landschaften; Flüsse und Bäche, Wälder und Felder. Dabei ist es vor allem der weite Himmel, der sie begeistert, erstaunen lässt. Ab und an kommt sie in Dörfer, wo sie manchmal zu ihren früheren Fehlern zurückkehrt und andere bestiehlt. Auf ihrer Tour begegnet sie die unterschiedlichsten Typen, dem Schiffer, der ein Bankräuber gewesen sein soll, dem taubstummen Jungen, einem Bauarbeiter, einem Schriftsteller und Juristen, einem hitzigen Brummi-Fahrer, der sich an ihr ergötzt. Auch mit Maik und Andrej (Tschick) gibt es ein Wiedersehen.
Trotz dieser stetigen Bewegung des Mädchens als roter Faden lebt die Handlung von ihren vielen kleinen, oftmals skurrilen und surreal wirkenden Szenen und von den Erzählungen der Menschen, auf die Isa trifft. Gerade das Erzählen spielt eine nicht unwesentliche Rolle in dem Buch. Hier werden nicht nur die großen Themen des Lebens verhandelt, wie Liebe und Freundschaft, Familie und Einsamkeit, Zeit und Tod. Diese Begegnungen werden damit zu einem besonderen Erlebnis für beide Personen, die als Gesprächsteilnehmer eine nahezu innige Bindung eingehen – wenn auch nur für kurze Zeit. Denn Isa ist bekanntlich auf der Flucht und wird auch nicht allzu oft gut behandelt.
„Im einen Moment denkt man, man hat es. Dann denkt man wieder, man hat es nicht. Und wenn man diesen Gedanken zu Ende denken will, dreht er sich unendlich im Kreis. Und wenn man aus dieser unendlichen Schleife nicht mehr rauskommt, ist man wieder verrückt. Weil man etwas verstanden hat.“
Sprachlich ist dieses unvollendete Werk, diese Road-Novel, eine einzigartige Erfahrung. Denn Isas Erzählstrom ist wie ein sprudelnder Wasserfall, der keinen Halt kennt, keine Grenzen, auch nicht die der Sprache. Herrndorf erweckt besondere Sprachschöpfungen zum Leben, liebt kurze Sätze, die Poesie sowieso. So wie er den Humor und das Quirlige seines besonderen Schützlings geschaffen hat, so tief melancholisch wirkt auch ein dunkler Schatten des Buches, der auf den Leser fällt. Vor allem am Schluss, bei dem Isa mit einer Pistole am Abgrund steht. Als Bild, als Metapher? Wofür? Welche Wendung hätte Herrndorf seinem Werk gegeben, wie wäre die Geschichte um Isa weitergegangen? Fragen über Fragen. Viele Rätsel umgeben den Roman. Nach dem tragischen Schicksal des Autors bleibt es nun dem Leser überlassen, die Fragen für sich zu beantworten. Herrndorf hätte das womöglich sogar gefallen, dessen allzu früher Tod ein großer Verlust ist.
Das Buch „Bilder deiner großen Liebe“ von Wolfgang Herrndorf erschien im Rowohlt-Verlag. 144 Seiten, 16,95 Seiten