„Ob die Sonne scheint oder es schneit, es ist ein schöner Moment, denn es gibt immer etwas zu beobachten, den Schnee, die Sonne, den Wind, eine Hasenspur, eine vorbeifliegende Krähe, das erwachende Leben, nichts, was sie nicht kennen.“
Eines Tages ist sie einfach da. Gertrude oder besser gesagt Marie-Desneige. Die betagte, aber rüstige Tante von Bruno bekommt einen neuen Namen, nachdem ihr Neffe sie vor der Rückkehr in die Psychiatrie bewahrt hat. Eine kleine Gemeinschaft am See wird zu ihrer neuen Heimat. Abgeschieden von der modernen Zivilisation haben sich Charlie und Tom, Freunde von Bruno und wie der weibliche Neuzugang ebenfalls über 80, in die Wildnis der nordkanadischen Wälder zurückgezogen. Sie leben in bescheidenen Holzhütten, jeweils mit einem treuen Hund an der Seite. Marie-Desneige wirbelt ihr bisher beschauliches Leben, mit dem der Roman „Ein Leben mehr“ der Kanadierin Jocelyne Saucier beginnt, gehörig durcheinander. Nicht nur durch rosa Gardinen in ihrem neu errichteten Holzhaus.
Das Zusammenleben dieses ungleichen Trios beobachtet eine Fotografin, die bereits vor der Ankunft von Marie in die Gemeinschaft gekommen war. Sie ist auf der Suche nach Überlebenden der Großen Brände, die einige Jahre nach der Jahrhundertwende für Leid und Verwüstung gesorgt hatten. Einer dieser Überlebenden war Boychuck, der jedoch noch vor der Ankunft der Fotografin im hohen Alter friedlich eingeschlafen war. Ein Schicksal, das Charlie und Tom für sich wünschen. Denn die Männer haben sich geschworen, freiwillig aus dem Leben zu gehen, sollten sie erkrankt oder verletzt dem anderen zur Last fallen. Der Tod ist allgegenwärtig in ihren Gesprächen und zeigt sich unter anderem auch in einer Dose mit Strychnin, die beide Männer jeweils in der Hütte aufbewahren.
Mit den beiden Frauen verändert sich das Leben allerdings schlagartig. Das Leben nimmt wieder das Ruder an sich, der Tod tritt in den Hintergrund. Vor allem für Charlie wird das Verhältnis und die aufkeimende Liebe zu Marie zu einem Jungbrunnen. Beide Frauen werden zu Freundinnen, trotz eines hohen Altersunterschiedes. Und dann stößt die ungleiche Runde in Boychucks Hütte auf ein Geheimnis, das zugleich ein Schatz ist: mehr als 100 Gemälde, die er in all der Zeit geschaffen hat und mit denen er die tragischen Erlebnisse des Großen Brandes auf seine vor allem düstere und melancholische Weise verarbeitet. Während die Fotografin eine Doppel-Ausstellung mit ihren Fotografien und Boychucks Werken plant, weiter zu den Großen Bränden recherchiert, geschieht das Unfassbare. Die Idylle wird durch eine Razzia der Polizei gestört. Denn Bruno und Steve, der Pächter eines nahe gelegenen Hotels, hatten die Abgeschiedenheit für ihre Zwecke und den Anbau von Cannabis-Pflanzen missbraucht.
Danach zerstreut sich die Runde. Die Fotografin verliert den Kontakt zu den Einsiedlern am See, zu denen sie eine besondere Beziehung aufgebaut hat und die – jeder für sich – besondere Geschichten zu erzählen wissen: Der wortkarge Charlie war einst Fallensteller, Tom hatte seine Finger im Gold-Geschäft und war durch Alkohol abgestürzt. Marie litt unter Panikattacken infolge ihres mehr als sechs Jahrzehnte währenden Aufenthaltes in der Nervenheilanstalt. Und die Fotografin kommt auch der Geschichte von Boychuck auf die Spur, der in seiner Jugendzeit in ein Zwillingsschwestern-Paar verliebt war.
„Wenn man die Freiheit hat, zu gehen, wann man will, entscheidet man sich leichter für das Leben.“
Es sind diese Lebensgeschichten hinter den Protagonisten, die dieses schmale Werk so ungemein reich und vielschichtig machen. Nach und nach bekommt jeder eine Vergangenheit, die angesichts des Alters der Personen sehr weit reichen kann und das gegenwärtige Leben und den Charakter des Menschen erklären. Berührend sind dabei beide Zeitebenen, die von unterschiedlichen Erzählern und aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Sehr feinfühlig und bilderreich wird im Rückblick von der einstigen tragischen Liebe Boychucks und von den beginnenden Gefühlen zwischen Charlie und Marie-Desneige, die noch im hohen Alter zueinander gefunden haben und darauf wieder Lebenskraft gewinnen, berichtet. Dieses besondere Paar ist es, das neben der allgemeinen Gastfreundlichkeit der Gemeinschaft sehr viel Wärme in diesen Roman bringt, während der Rückblick auf die Lebensgeschichte Boychucks für Spannung sorgt.
Zwischen diesen menschlichen Schicksalen webt die Autorin, die mit diesem, ihren vierten Roman erstmals in Deutschland bekannt wird, eindrucksvolle Naturbeschreibungen wie auch die entsetzlichen Szenen des Großen Brandes. Trotz aller Tragik und Melancholie, die auch schmerzen kann und betroffen macht, findet sich an einigen Stellen ein sehr warmherziger humorvoller Ton. All das zusammen lässt Sauciers Werk zu einer Perle im Buchregal werden, für die man als Leser sehr dankbar ist, weil sie mit der Lektüre zwei besondere Lektionen erteilt: Dass am vermeintlichen Ende des Lebens eine überraschende Liebe jeden ereilen kann und dass Mitmenschlichkeit und Respekt verschiedenen Menschen zusammenbringen. Und eines ist an diesem Roman erstaunlich: Fast jeder Leser wird ein Lieblingsthema entdecken oder das Werk auf seine Art lesen. Saucier verwebt das Leben und die Liebe mit Kunst und Natur und bringt Geschichten und Szenen zusammen, die sowohl Frauen als auch Männer beeindrucken.
Der Roman „Ein Leben mehr“ von Jocelyne Saucier erschien im Insel Verlag, in der Übersetzung aus dem Französischen von Sonja Finck; 192 Seiten, 19,95 Euro.
Foto: jbkfotos/pixelio.de
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