„Der Schmerz war wie ein Fluss, auf dem ich paddelte; wenn ich versuchte, einen Fuß hineinzusetzen, würde er mich umreißen.“
Erwachsen zu werden bringt es mit sich, auf Familiengeheimnisse zu stoßen. Ein Kind soll davon verschont bleiben, meine viele. Dabei kann ein Geständnis, eine Erklärung, eine Geschichte aus vergangener Zeit in späteren Jahren Verwirrung stiften. Maggie, die Protagonistin und Erzählerin in dem Debüt-Roman „Der Duft des Regens“ der Kanadierin Frances Greenslade, soll diese Erfahrung machen.
Das Mädchen wächst mit ihrer Schwester Jenny und ihren Eltern Irene und Patrick in bescheidenen Verhältnissen ohne moderne Annehmlichkeiten in einem Holzhaus in den weiten Wäldern Kanadas auf. Die Natur bestimmt ihr Leben. Sie liebt es, mit dem Vater durch die Wildnis zu streifen, mit ihm ein Versteck zu bauen. Es sind die 60er Jahre, wo es neben den Dillons noch andere Menschen gibt, die als neue Pioniere die Ruhe und Abgeschiedenheit in der Natur der Hektik in der Stadt vorziehen; darunter kauzige, aber besondere und starke Männer und Frauen. Doch dem beschaulichen Familienleben wird durch ein tragisches Ereignis ein Ende gesetzt: Maggies und Jennys Vater, der seinem Heimatland Irland den Rücken gekehrt hatte, um seiner Einberufung zu entgehen, stirbt nach einem Arbeitsunfall. Die Mutter ist fortan mit ihren beiden Kindern auf sich allein gestellt. Sie versucht, mit einem Job als Bäckerin in einem Angler-Camp die Familie über Wasser zu halten, scheitert indes. Ein ruheloses Leben ohne festes Zuhause bestimmt fortan das Leben des Mutter-Töchter-Trios. Irene gibt die beiden Mädchen schließlich in die Obhut der Edwards, alte Bekannte Patricks, die in der nahe gelegenen Stadt Williams Lake wohnen. Die Fahrt in die Stadt ist für Maggie und Jenny, ohne das sie es nur erahnen können, die letzte Gelegenheit, mit der Mutter gemeinsam Zeit zu verbringen. Sie verschwindet daraufhin spurlos, schreibt in den ersten Wochen und Monaten Briefe, überweist etwas Geld, bis auch diese Lebenszeichen aus der unbekannten Ferne ausbleiben.
Der plötzliche und tragische Tod des Vaters, der die Familie nahezu komplett auseinander reißen wird, bleibt nicht der einzige Schicksalsschlag, die einzige Herausforderung für die beiden Schwestern, die trotz ihrer verschiedenen Wesen von einem engen Band zusammengehalten werden. Jenny, die Ältere, führt das übliche Teenager-Leben aus Partys, Shopping und Annäherungen an das andere Geschlecht. Maggie, die Jüngere, zieht sich oft zurück, streift allein durch die Wälder. Die fehlende Liebe der cholerischen Pflegemutter Bea ersetzen Maggies Schulfreund Vern, Sohn einer Indianerin, und der Pflegevater Ted, der nach einem Autounfall seinem trostlosen Leben durch Kneipenbesuchen entkommen will und schließlich an Krebs verstirbt.
„Man braucht Übung, um mit Enttäuschung klarzukommen, und ich hatte noch nicht genug davon.“
Dass das Leben aus Schmerz, Tod und Abschied besteht, erfahren die beiden Mädchen sehr früh. Nichts scheint sicher im Leben. Vor allem die Menschen sind unberechenbar – das war die große Lehre, die einst Irene ihren Töchtern mit auf dem Weg gegeben hatte. Doch nicht ohne Grund: Maggie, die sich auf die Bitte Jennys schließlich auf die Suche nach ihrer Mutter macht, wird erzählt bekommen, warum ihre Mutter zu der werden konnte, die sie ist. Ein Schicksal, das sich in Jenny nahezu wiederholt, die mit 16 Jahren – im gleichen Alter wie ihre Mutter – schwanger wird und von Bea verstoßen ihre Tochter Sunshine in einem Heim für unverheiratete Frauen in Vancouver zur Welt bringt. Der ebenfalls junge Vater hatte sich zuvor aus dem Staub gemacht.
In dieser großen Familiengeschichte streut die Autorin immer wieder kleine individuelle Schicksale hinein: das der Mutter, die ebenfalls sehr früh auf sich allein gestellt war, das von Vern, der bei dem Bruder seiner Mutter wegen ihrem gewalttätigem neuen Freund aufwächst, das von Emil, Irenes erster großen Liebe, der den Tod des Bruders mitverschuldet hat und psychisch labil ist. Es scheint, dass kaum einer der Charaktere nicht gezeichnet von den tragischen und traurigen Seiten des Lebens ist, ein Unglück sich als schwarze Perle in die Seele gelegt hat. Doch dazwischen gibt es viel Licht und Wärme – durch die Kraft der Natur, die in sehr poetischen und sinnlichen Beschreibungen immer wieder durchscheint, durch Menschlichkeit und Zuneigung, die beide Schwestern von oftmals unerwarteter Seite erfahren.
Es ist dabei erstaunlich, dass trotz dieser zahlreichen Unglücke und tragischen Geschehnisse, vor allem der Elternlosigkeit der Schwestern, Greenslade es in ihrem Debüt schafft, nicht in Kitsch abzugleiten. Denn der 1961 in Ontario geborenen Autorin gelingt es, eine Balance aus erlebtem Schmerz und gewonnener Zuversicht innerhalb ihrer Charaktere zu halten. „Der Duft des Regens“ ist ein sehr ergreifender Roman, der die Helden des Buches und die Leser eng zusammenbringt. Gerade auch deshalb, weil Maggie die Geschehnisse aus ihrer Sicht erzählt – ausgenommen jene Briefe, die ihre Schwester aus dem Heim und während eines späteren Aufenthaltes in der Psychiatrie schreibt. Kaum einer wird wohl von der Geschichte der beiden Schwestern nicht berührt werden. Gerade eine der letzten Szenen, die den Grund für das Fernbleiben der Mutter erzählt, wird vielen nahe gehen und diesem Buch in Moll einen besonderen tiefen Ton verleihen.
Der Roman „Der Duft des Regens“ von Frances Greenslade erschien im Insel Verlag, in der Übersetzung aus dem kanadischen Englisch von Claudia Feldmann; 366 Seiten, 9,99 Euro
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