John Lanchester „Die Mauer“

„Wer hat die Welt kaputt gemacht? Sie würden niemals zugeben, dass sie es waren. Und doch ist es direkt vor ihren Augen geschehen.“

Es gibt sie in China, eine solche hat Berlin geteilt, zwischen den USA und Mexico soll eine errichtet werden. Eine Mauer grenzt ab, ist Bollwerk und Verteidigungslinie. England hat eine Anlage mit einer Länge von rund 10.000 Kilometern gebaut. Sie umschließt die Insel und soll verhindern, dass die Anderen in Scharen ins Land kommen. Dieses Szenario bildet den Kerngedanken im neuen Roman des britischen Schriftstellers John Lanchester, der schon mit seinem Werk „Kapital“ auf aktuelle politische wie gesellschaftliche Entwicklungen reagiert hat. 

Verbannung aufs Meer droht

Auch sein neuestes Buch nun ist voller Anspielungen – auf die Migration und den  Flüchtlingsstrom, auf den Klimawandel, der zu den Gründen zählt, warum sich die Menschen aus anderen Teilen der Erde auf den gefahrvollen Weg in ein sicheres Land machen. Im Mittelpunkt steht Joseph Kavanaugh, der Ich-Erzähler, ein junger Mann, der seinen zweijährigen Dienst auf der Mauer antritt. Einen Dienst, den sowohl Männer als auch Frauen auf der sogenannten „Nationalen Küstenverteidigungsbefestigung“ leisten müssen. So ist es nicht verwunderlich, dass auch Frauen zur Truppe zählen. Der Dienst ist hart und eintönig. Die Schichten dauern zwölf Stunden, am Tag oder in der Nacht. Immer sind die Wachhabenden der Gefahr ausgesetzt, von den Anderen, die die Mauer meist mit Waffengewalt überwinden wollen, getötet zu werden. Und über all dem droht den Verteidigern die Verbannung aufs Meer, sollten Andere es geschafft haben, ins Land zu kommen.     

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Kühle und Beklemmung bestimmen diesen Roman. Das liegt vor allem in den nüchternen Bezeichnungen wie „Verteidiger“, „Dienstlinge“, „Fortplanzler“ und „Andere“. Die Menschen werden in Kategorien eingeteilt, welchen Nutzen sie für andere haben.  Dienstlinge sind einstige Andere, die sich integriert haben und nun als Dienstboten, als moderne Sklaven, tätig sind.  Es herrscht eine Kluft zwischen den Zivilisten und Verteidiger, zwischen der jungen und der älteren Generation, die für den Wandel verantwortlich ist. Als ich dieses Buch gelesen haben, waren meine Bilder im Kopf in Schwarz-Weiß gehalten, von Nebel umgeben. Auslöser waren die Beschreibungen der Mauer, ihre Wucht, ihre Beton-Kälte. Wie ein Mantra tauchen die Wörter „Beton“, „Himmel“, „Wind“, „Wasser“ nacheinander im Bericht des Ich-Erzählers auf.

Zeit des Überflusses ist Geschichte

So wie Beton das alles beherrschende Material neben den Elementen Himmel und Wasser ist, wird die Zeit zu einem bedeutsamen Faktor. Kavanaugh zählt die Tage bis zum Dienstende, die Stunden bis zum Schichtende. Das dystopische Geschehen wird bestimmt von dem Wandel, der die Welt auf den Kopf gestellt hat. Nichts ist mehr, wie es einmal war. Wie sich dieser Wandel gestaltet und welche Ursachen er hat, wird indes nicht konkret benannt. Doch Lanchester, 1962 in Hamburg geboren und mehrfach für sein Schaffen ausgezeichnet, braucht dies nicht zu erzählen. Der Blick in die täglichen Nachrichten genügt, um zu erkennen, dass er den Klimawandel, der Einfluss auf alle Lebensbereiche hat, sowie die Abschottung eines Landes gegenüber globalen Entwicklungen meint. Selbst in England sind die Zeiten des Überflusses Geschichte, Mangel herrscht. Kavanaugh schwankt in seinen Wünschen, ein normales Leben oder eines in der Gruppe der Elite zu führen. Sein Kamerad Hugh will Literatur studieren.

„Beeile dich und warte. Das ist das Motto, unter dem die meisten Leben stehen. Es ist auf jeden Fall das Motto, unter dem das Leben auf der Mauer steht. Das Einzige, das schlimmer ist, als wenn überhaupt nichts passiert, ist der Moment, in dem dann doch etwas passiert.“

Doch es kommt, wie es kommen muss. Zwischen der bleiernen Eintönigkeit gibt es schreckliche Katastrophen, furchtbare Gewalt, auch Kavanaugh, der eine intime Beziehung zur Verteidigerin Hifa eingeht – beide entscheiden sich, Fortplanzende zu werden – muss dies erfahren. Es gehört zu den großartigen Eigenschaften dieses Buches, dass der Roman trotz seiner eingeschränkten Ich-Perspektive mehrere Sichten Raum gibt. Das Paar wird erfahren, was es heißt, zu den Anderen zu zählen, in Not zu kommen, auf einer stetigen Suche nach einem sicheren Ort zu sein, wie wertvoll kleine Dinge wie das Feuer sind. 

Die Reise ist lang und wird beherrscht von Gefahren und dem Tod. Immer wieder gibt es Rückschläge. Zarte Blüten der Menschlichkeit und des Miteinanders werden schnell zunichte gemacht. Jeder Leser wird die letzten Seiten, das Ende und wie es mit Kavanaugh und Hifa wohl weitergehen mag auf seine ganz eigene Weise, mit seinem subjektiven Blick – optimistisch oder eher pessimistisch – bewerten. „Die Mauer“ ist ein großartiger und trotz oder wegen seiner kühlen Beklemmung ein bewegender Roman, der der Allgemeinheit ihr jetziges Fehlverhalten und dessen Folgen allzu deutlich vor Augen führt und der auch aufzeigt, wie es ist zu fliehen – um zu erleben.

Weitere Besprechungen gibt es auf den Blogs „Kaffeehaussitzer“, „Feiner reiner Buchstoff“ und „bleisatz.blog“.


John Lanchester: „Die Mauer“, erschienen im Verlag Klett-Cotta, in der Übersetzung aus dem Englischen von Dorothee Merkel; 348 Seiten, 24 Euro

Foto: pixabay

7 Kommentare zu „John Lanchester „Die Mauer“

  1. Das habe ich auch gelesen und war beeindruckt. Manchmal störteich zwar die Eintönigkeit, die Beschreibung des Immergleichen, aber andererseits ist es genau das, was Lanchester ausdrücken wollte. So wie du das mit dem treffenden Wort „Mantra“ in Bezug auf Worte wie “ Beton“ etc. sagst.
    Jedenfalls ist das Buch eine eindrückliche Warnung an uns alle: so weitermachen wie bisher geht nicht mehr!

    Gefällt 2 Personen

    1. Vielen Dank, liebe Elvira, für Deinen Kommentar. Die Eintönigkeit sehe ich als ein Gestaltungsmerkmal, diese Welt darzustellen. Mich hat die Geschichte sehr berührt, eine Geschichte, die auch immer wieder von überraschende Wendungen geprägt wird. Viele Grüße

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  2. Hallo,

    die Mauer als Grundgedanke, im Rahmen einer Geschichte rund um Migration und Flucht) hat wirklich einen immensen Gegenwartsbezug – daher möchte ich das Buch auch unbedingt noch lesen – und es klingt so, als habe der Autor das Beste daraus gemacht.

    (Obwohl Trumps Mauer ja inzwischen eher eine Farce ist.)

    Sehr interessante Rezension!

    LG,
    Mikka

    Gefällt 1 Person

    1. Vielen Dank für Deinen Kommentar, Mikka. Ja, der Roman hat deutliche Bezüge und Anspielungen, das macht ihn ja gerade so interessant und diskussionswürdig. Mich würde dann Deine Meinung interessieren, wenn Du den Roman gelesen hast. Viele Grüße

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  3. Hallo Constanze,

    ich war weniger von der Trostlosigkeit der Geschichte angetan. Ganz einfach, weil ich glaube, dass die Menschheit anders auf solche Krisen reagiert (bzw. reagieren würde). Ich habe es in meiner Rezension so dargestellt:
    „Am meisten stört mich innerhalb der Geschichte die dargestellte Trostlosigkeit und Hoffnungslosigkeit der Menschen. Die Menschen sind derart niedergeschlagen, dass das finstere Mittelalter im Vergleich dazu wie ein Freudenhaus erscheint.“

    Aber so ist das in der Literatur – der ein ist von Büchern begeistert, der anndere nicht ;)

    Viele Grüße
    Der Büchernarr

    Gefällt 1 Person

    1. Ja, das macht aber eine Diskussion auch spannend, wenn die Meinungen sich unterscheiden. Deshalb danke ich Dir sehr für Deinen Kommentar und den Verweis auf Deine Besprechung. Der Roman ist schon von einer gewissen Trostlosigkeit und Düsterkeit geprägt, allerdings setzt er auch kleine Funken Hoffnung, gerade im zweiten Teil. Aber ich kann mir im Moment keine Dystopie – und das ist dieser Roman – ohne eine gewisse Dunkelheit vorstellen. Viele Grüße

      Gefällt 1 Person

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