„Ich bin nicht verrückt. Oder muss man verrückt sein, um unglücklich zu sein.“
Hinter oder kurz vor dem Deich – der Blickwinkel ist bekanntlich oft entscheidend – scheint die Welt eine andere zu sein. Das Meer ist zum Greifen nah, das Hinterland ein weites und überaus flaches, über das in regelmäßigen Abständen eine steife Brise huscht oder ein Sturm pfeift. Es ist die Heimat von Jan. Nach dem tragischen Tod seiner Eltern lebt er allein auf dem Bauernhof der Familie. Der Briefkasten ist einen Kilometer vom Haus entfernt, die Nachbarn noch ein „Stückchen“ weiter. Die Einsamkeit und die Sehnsucht nach einer Frau treiben ihn um. Eines Wintertages, die Arbeit ist für das Jahr geschafft, inseriert er in der Zeitung. Seine Kontaktanzeige bildet den Auftakt des Romans „Unter den Menschen“ des Niederländers Mathijs Deen, der allerhand herrliche Irrungen und Wirrungen bereitet.
Statt Liebe die Suche nach Ruhe
Denn Wil, die er schließlich kennenlernt, verfolgt mit einer gewissen Raffinesse einen etwas anderen Plan, als sie sich unter falschem Namen auf das Inserat meldet. Einmal soll es doch von Vorteil sein, wenn man wie sie als ausgebildete Dokumentarin in einer Anzeigenabteilung der Zeitung arbeitet. In der Metropole Amsterdam lebend, sehnt sie sich vielmehr nach Ruhe und Weite. Auch möchte sie zwischen sich und ihrer kranken Mutter etwas Abstand schaffen. So bleiben Missverständnisse und Konflikte nicht aus, kommt es zu Auseinandersetzungen, rauchen beide Protagonisten ob der Wut auch innerlich. Doch Mann und Frau, deren Namen beide aus drei Buchstaben bestehen, kommen irgendwie zusammen. Tag für Tag, Streit für Streit. Und nicht nur, weil das körperliche Verlangen sie schließlich zueinander treibt.
Beide Helden in diesem tragikomischen Kammerspiel sind vom Leben nicht verwöhnt worden. Jans Eltern starben bei einem Unfall im Urlaub; sie lassen den Hof, einen Berg harter Arbeit und Verpflichtungen sowie Kühltruhen voller Essen, die Jans Mutter ihrem Sohn vor der Reise zubereitet hat, zurück. Die konfliktreichen Ehen seiner Vorfahren haben den jungen Mann des Weiteren geprägt. Wil ist hingegen immer wieder, leicht- und gutgläubig wie sie war, von Freunden und Kollegen ausgenutzt worden. Beide sind gezeichnet von ihren negativen mitmenschlichen Erfahrungen. Jan ist ein stiller, wortkarger Mann, Wil meidet Nähe sowie Beziehungen und will trotz ihrer Selbstzweifel ein selbstbestimmtes Leben und die Regeln des Zusammenseins klar definieren. Statt miteinander zu sprechen, schweigt er, während sie ihre Gedanken niederschreibt.
Mit loriotschem Charme
Deen, 1962 geboren und als Journalist und Autor tätig, lässt diesen besonderen Ort – der Bauernhof als eine Art Insel von Meer und Land umgeben – vor den Augen des Lesers entstehen. Er bildet den örtlichen Mittelpunkt des Geschehens, zu dem Jan und Wil immer wieder zurückkehren und der schließlich zu einem Nest wird. Deens Sprache ist oft knapp, aber stets intensiv, bildhaft und lakonisch. Die Dialoge in ihrer lebendigen und witzigen Art führen unweigerlich zu einem Kopfkino. Immer wieder musste ich dabei an Filme des unvergessenen Loriot (1923 – 2011) denken, der mit grenzenloser Beobachtungsgabe und Klugheit die Marotten seiner Mitmenschen so treffsicher eingefangen und diesen seinen Zuschauern vor Augen geführt hat. Dabei gibt der Niederländer seine Protagonisten nicht dem Verlachen preis, obwohl sicherlich die eine oder andere Szene zum Schmunzeln oder gar zum Lachen reizt. Deen beweist vielmehr Herz für die Charaktere, die erkennen, dass sie sich gegenseitig brauchen und die trotz ihrer Wunden und Narben Stärke beweisen.
„Ein ganzer Horizont, die endlose Weite gleich hinter deinem Haus. Du brauchst nur auf den Deich zu steigen, und schon wird deine Welt doppelt so groß.“
„Unter den Menschen“ ist ein warmherziges Buch für Herz und Seele über Beziehungen und die Liebe auf den 13. Blick und einen Ort, der bei genauerem Hinsehen eine besondere Intensität ausstrahlt, da er die Konzentration auf das Wesentliche lenkt. Das Buch ist voller Augenzwinkern, aber auch Melancholie und Tiefgang. Der Roman erschien bereits 1997 im Heimatland des Autors. 2016 nach einer Neuausgabe wiederentdeckt, kam er nun auch in einer deutschen Übersetzung heraus.
An dieser Stelle darf der Hinweis auf ein weiteres Werk des Niederländers nicht fehlen, das wiederum die Vielfalt seines Schreibens beweist. Mit seinem faszinierenden und aufwendig recherchierten Buch „Über alte Wege“ (Dumont Verlag) lädt er auf eine wundersame Reise in Raum und Zeit ein. Acht Geschichten berichten darin über die über Jahrhunderte gewachsene Historie der heutigen Europastraßen. Wer beide Bücher liest und später mag, wird womöglich einen neuen Lieblingsschriftsteller gefunden haben. Aber warum auch nicht. Hat doch das Nachbarland immer wieder literarische Perlen und Entdeckungen zu bieten.
Mathijs Deen: „Unter den Menschen“, erschienen im mare Verlag, in der Übersetzung aus dem Niederländischen von Andreas Ecke; 192 Seiten, 20 Euro
Bild von Evgeni Tcherkasski auf Pixabay
Das Foto ist der Hammer !! Und, ja, das Buch war mir sehr sympathisch und hatte es für den Buchladen bestellt….und verkauft :) aber jetzt werd Ichs auch lesen. Dankeeeee..
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Ich muss gestehen, dass ich bei den Bildern für die Beiträge auf eine Online-Fotodatenbank zurückgreife. Aber trotzdem vielen Dank für Deinen Kommentar. Wenn Du das Buch gelesen hast, würde ich mich auf eine Rückantwort freuen. Bis dahin! Viele Grüße
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