Stig Sæterbakken – „Durch die Nacht“

„Menschen, die am Rand eines Abgrunds stehen, kennen sich nicht.“

Es liegen nur wenige Monate zwischen der Veröffentlichung seines Romans „Gjennom natten“ und seiner letzten Entscheidung. Am 24. Januar 2012 nahm sich der norwegische Schriftsteller Stig Sæterbakken das Leben. Er zählte in seinem Heimatland zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart, Karl Ove Knausgård schätzte ihn. Sein literarisches Schaffen weist eine große Bandbreite auf, es reicht von Romanen über Lyrik bis zu Essays und Erzählungen. Zudem übersetzte er erfolgreich aus dem Englischen. Mit acht Jahren Zeitunterschied erschien mit „Durch die Nacht“ nun Sæterbakkens letztes Werk in deutscher Übersetung. Ein erschütternder und beklemmender Roman, der lange nachhallt.

Suizid des Sohnes

Dieses Buch ist anders, auch wenn die Geschichte recht schnell erzählt ist. Karl Meyer ist Zahnarzt. Er ist verheiratet, hat einen Sohn und eine Tochter. Er hätte weiter ein zufriedenes und erfülltes Leben führen können. Auf einer Feier verliebt er sich jedoch in die 17 Jahre jüngere Mona. In all seinen überschwänglichen Gefühlen und seiner Euphorie verlässt er wenig später Knall auf Fall Frau und Kinder – um wenig später jedoch wieder zurückzukehren, weil ihn Zweifel plagen wegen der Beziehung mit einer jüngeren Frau und ihm Monas Wesen missfällt. Gute Freunde hatten sich von ihm abgewandt. Doch nichts ist mehr, wie es einst war. Die Familie grenzt ihn aus, allen voran sein Sohn Ole-Jakob, zu dem Karl keinen Zugang mehr findet. Aus einer Einheit, deren Zugehörigkeit ihrer Mitglieder auf tiefen Emotionen basiert, wird eine Einheit, die als einen gemeinsamen Nenner nur das Leben unter einem Dach wahrnimmt. Dann geschieht die unfassbare Tragödie, die die Familie ein zweites Mal auseinanderreißt: Der 18-Jährige nimmt sich auf grausame Weise das Leben. Auf einer Fahrt mit dem Auto seines Vaters löscht er sich quasi aus.  Mit der tiefen Trauer setzt dieser Roman ein, in dem Karl als Ich-Erzähler von seinen Erlebnissen, seinen Gedanken und Gefühlen schonungslos berichtet.

Stig

Sein Erzählstrom springt dabei zwischen den Zeiten. Zwar fehlt dem Roman damit ein chronologischer roter Faden, trotzdem besitzt er eine gewisse Struktur: Denn er besteht aus zwei Teilen. Part eins erzählt von der Familie, ihrem Entstehen bis hin zum Freitod des Sohnes sowie von der beginnenden Trauer, dem tiefen Schmerz und den großen Schuldgefühlen des Familienvaters ob des Verlustes. Der zweite Teil schildert Karls Reise – man könnte sie auch Flucht nennen – über Deutschland in die Slowakei, mit der er seiner Familie ein zweites Mal den Rücken kehrt. In einer deutschen Kleinstadt trifft Karl auf Caroline, eine Fotografin, deren Bruder sich ebenfalls das Leben genommen hatte. Auch sie verlässt er kurze Zeit später und ohne ein Wort des Abschieds wieder, um weiter in die Slowakei zu reisen, um dort das sogenannte Haus des Grauens zu besuchen, von dem er von seinem Freund Boris erfahren hatte.

„Ich dachte an den alten Tagtraum: Nicht spurlos verschwinden, sondern spurlos auftauchen. Alles hinter sich abbrechen und als Fremder ankommen, von allem, was einen bis dahin ausmachte, befreit, von allen Sorgen, von allem, was einen beschwert und niederdrückt, mit dem Zweck, unter dem verjüngenden Licht der neuen Welt aufzuerstehen.“

Es ist ein sehr absonderliches, teils gruseliges und albtraumhaftes Geschehen, das einen herben Kontrast zum ersten Teil bildet und sich Seite für Seite ins Unreale und Mystische steigert, wenngleich zu Beginn ein Märchen, das Karl einst seinem kleinem Sohn erzählt hat und in dem auch der Verweis auf den Titel des Romans zu finden ist, darauf deutet, dass der norwegische Schriftsteller Grenzen überschreitet, um die schwierigen, auch sehr emotional aufgeladenen Themen Leere und Einsamkeit, Trauer und Schuld zu verhandeln.

Autor hinterlässt Frau und zwei Kinder

Sæterbakken hat ein Buch geschrieben, das einen mitzieht, verstörend ist, das sich in den Leser einwühlt. Es ist ein Roman, dessen Tiefe und eigenartiger Charakter vielleicht nicht beim ersten Lesen erschlossen werden kann. Man muss diesen zerrissenen Helden, der Menschen urplötzlich und ohne große Ansage verlässt, nicht mögen, um dieses Buch zu schätzen. Der Umstand, dass sich Sæterbakken im Alter von 46 Jahren wenige Monate nach der Veröffentlichung dieses Romans, der sich eben dem Freitod und Abschied widmet, selbst das Leben nahm, beinhaltet viel Tragik und Düsternis. Er kehrte die Handlung, in dem ein Jugendlicher den Freitod wählt, indes um. Sæterbakken, selbst Familienvater, hinterließ seine Frau und zwei Kinder.

Weitere Besprechungen auf den Blogs „literaturreich“, „AstroLibrium“ und „Mikka liest“.


Stig Sæterbakken: „Durch die Nacht“, erschienen im Dumont Buchverlag, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Karl-Ludwig Wetzig; 288 Seiten, 22 Euro

Bild von Igor Schubin auf Pixabay

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