Reinhard Stöckel – „Kupfersonne“

„Du findest, was du suchst.“

Enzthal ist eingeschlossen. Ein nahezu undurchdringlicher Nebel umhüllt das Dorf, im Osten Deutschlands, genauer gesagt im Mansfelder Land, gelegen. Unweigerlich fällt einem das derzeit oft genutzte Wort „Lockdown“ ein. Wenngleich der Nebel noch weitere Folgen mit sich bringt: Kein Radio funktioniert, die Kinder kommen nicht mehr mit dem Bus in die Schule, dem Gasthof geht langsam das Bier aus. Nicht einmal Walter Ulbricht, der zu dieser Zeit als Vorsitzender des Staatsrates der DDR die Macht in den Händen hält, kann daran etwas ändern. Die Bewohner nehmen ihr Schicksal auf ganz eigene Weise in die Hände. Dieser Ort nahe des Kyffhäusers ist Ausgangspunkt von großer Geschichte und individuellen Lebensgeschichten, die im neuen Roman von Reinhard Stöckel vom bewegenden wie dunklen Kapiteln des 20. Jahrhunderts erzählen und dabei auch nach Spanien führen.

Ein Vertrauter verschwindet

Hartwig Laub ist noch ein Kind, als sich dieses merkwürdige Geschehen infolge eines Bergsturzes ereignet. Sein Vater arbeitet als Buchhalter in der bäuerlichen Genossenschaft, sein Opa, der im Dritten Reich als NSDAP-Ortsgruppenleiter mehr als nur ein Mitläufer war, hat sich nach dem Kriegsende in den Westen verdrückt. Die Grenze teilt das Land und das Leben der Familie. Sein engster Vertrauter ist der weit ältere Edgar Trybek, mit dem er die Faszination für die nahe gelegene Bergbau-Mine, in der einst Kupfer abgebaut wurde, teilt. Er ist Sohn einer polnischen Zwangsarbeiterin, der Vater ist unbekannt. An seine Mutter, da im Heim und später bei einer Pflegefamilie aufgewachsen, hat er keine Erinnerungen. Seine Liebe zu Marie, Hartwigs Tante, bleibt unerfüllt weil von der Familie unerwünscht. Eines Tages verschwindet der ältere Freund. Mehrere Jahrzehnte später stößt der erwachsene Hartwig, nunmehr seines Zeichens Geologe, bei einer Reise in Spanien auf eine Spur seines verschollenen „Onkels“.

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Die verschiedenen Zeiten und Länder mit ihren unterschiedlichen politischen wie gesellschaftlichen Systemen bringt Stöckel dank einer meisterhaften Konstruktion zusammen. Der Roman besteht aus drei Teilen plus einem Epilog und erinnert an die Form des Triptychons, eine traditionsreiche und geschätzte Kunstform, die bis heute Anwendung findet. Die Erlebnisse und Erfahrungen des Helden und Ich-Erzählers in Spanien, zeitlich in der jüngsten Vergangenheit verortet, umrahmen die Geschehnisse, die sich in Enzthal abspielen. Verbindendes Element sind die Schicksale der Figuren sowie die Reise des Protagonisten. Die Lebenswege mehrerer Bewohner führen zu verschiedenen Zeiten in das südeuropäische Land. Theo Woltz, Sohn des ortsansässigen Kaufmanns, dient während des spanischen Bürgerkriegs als Soldat in der faschistischen Legion Condor. Edgar Trybek soll hingegen in den 1970er-Jahren wegen Mordes an einen Polizisten hingerichtet worden sein, erfährt der Ich-Erzähler während der Recherche vor Ort, bei der er nicht nur Antonio und seinen dementen Vater, ein Opfer des Franco-Regimes, kennenlernt, sondern zunehmend daran zweifelt, dass sein Vertrauter einst wirklich starb. Was werden seine Grabungen in der Geschichte zutage bringen?

„Wo war die Zukunft hin, die leuchtende, die blaue? Der Himmel glich gehämmertem Kupfer. überzogen von einem milchigen Licht, als wäre eine Schale über Enzthal gestülpt. Auf vielfältige Weise war, was scheinbar vergangen gewesen, nach Enzthal zurückgekehrt.“

Doch was ist richtig und was ist falsch und damit nur Produkt von Fantasien, Fieberträumen und falschen Überlieferungen? Der Leser begibt sich mit diesem Roman, in dem sich auch die Formen des Notizbuchs und des Briefes finden lassen, ab und an aufs Glatteis und kann sich nicht immer sicher sein, welches Geschehen und welche Ereignisse denn nun „wirklich“ sind – wenn man in einem fiktiven Roman überhaupt davon sprechen kann. Stöckel hält mehrere Überraschungen bereit, lüftet im Verlauf das eine oder andere Familiengeheimnis und gibt Einblicke in die wechselvollen Ereignisse eines Dorfes und im Leben seiner Bewohner. Und mehr noch: Mysteriöse Ereignisse finden sich in allen drei Teilen, in denen regelmäßig Anspielungen auf das Kupfer, das bis in die 1960er-Jahre im Mansfelder Land abgebaut wurde, erscheinen. Was hat es mit dem weißen Eber auf sich, auf dem die schöne Freya, Trybeks Geliebte, reitet, wer ist der weiße Offizier, den Hartwig an seinem Krankenbett sieht, nachdem er in Spanien Opfer eines Verkehrsunfalls wurde? Eine Passage könnte als Leitsatz über diesem wunderlichen, wundersam verschlungenen und komplexen Roman stehen: „Heimat und Fremde, Außen und Innen, Wirklichkeit und Traum. Es ist doch das eine immer im andern.“

Vielbeachtetes Debüt

Stöckel, 1956 in Allstedt/Sachsen-Anhalt und damit unweit vom Schauplatz des Romans geboren, studierte am Leipziger Literaturinstitut und war in verschiedenen Berufen, so als Bibliothekar, Gießereiarbeiter und Publizist, tätig. Er debütierte 2009 mit dem viel beachteten Roman „Der Lavagänger“ (Aufbau Verlag). 2018 erschien sein Roman „Der Mongole“ im in Salzburg ansässigen Müry Salzmann Verlag.  Ein ebenso eindrucksvolles Buch, das wiederum in die Lausitz, in der Stöckel heute lebt und arbeitet, führt.

„Kupfersonne“ nunmehr erzählt meisterhaft und sprachlich virtuos von einer Sehnsucht nach einem Traumland sowie der Suche nach Identität und den eigenen Wurzeln. Ein Buch, das man nur schwer aus der Hand legen mag und auf geschickte Weise Tragik und Komik sowie Wirklichkeit mit magischer Realität verbindet.


Reinhard Stöckel: „Kupfersonne“, erschienen im Müry Salzmann Verlag; 504 Seiten, 29 Euro

Bild von diema auf Pixabay

2 Kommentare zu „Reinhard Stöckel – „Kupfersonne“

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