„(…) denn alles, was ich an Dunkelheit hatte, drückte von innen gegen die Wände und füllte den Raum (…).“
Als sie in Oslo die Fähre in Richtung Frederikshavn bestiegen, konnte keiner der 383 Passagiere und 99 Besatzungsmitglieder an jenem 7. April 1990 ahnen, dass ihre folgende Fahrt über das Skagerrak in eine verheerende Katastrophe münden würde. Bei einem Brand auf der „Scandinavian Star“ starben an jenem Tag 159 Menschen. Darunter die Eltern und der jüngste Bruder des norwegischen Schriftstellers Per Petterson. Nach seinem bereits im Jahr 2007 in deutscher Übersetzung erschienenen Roman „Im Kielwasser“ verarbeitet er auch in seinem jüngsten Buch „Männer in meiner Lage“ das Drama und den Verlust, den er damals als 38-Jähriger erfahren musste.
Rastlos durch Oslo
Die Lektüren seiner Romane konfrontieren den Leser meist mit bekannten Helden und Themen und führen zu Wiederbegegnungen der besonderen Art. Auch Arvid Jansen ist den Fans Pettersons kein Unbekannter. Er selbst sowie Personen aus seinem Umfeld, wie Jansens Freund Audun, tauchen bereits in mehreren seiner früheren Romanen auf. In „Männer in meiner Lage“, das ausgenommen einzelner Rückblicke im Jahr 1992 handelt, hat er nicht nur den Verlust seiner Eltern und Brüder zu verarbeiten. Seine Ehe ist in die Brüche gegangen. Zu den drei gemeinsamen Töchtern, die seine Ex-Frau Turid zu sich genommen hat, hat er wenig Kontakt. Einsamkeit und Trauer treiben ihn um. Jansen streift durch Oslo und Umgebung, manchmal fährt er auch nach Schweden, um sich in ein Café zu setzen. In seiner Ruhelosigkeit – oft bezeichnet sich der Ich-Erzähler als rastlos – hängt er in Bars und Kneipen ab, schläft nach einem Flirt mit der einen oder anderen Frau und erinnert sich an den Orten seiner Vergangenheit an seine Kindheit, Jugend und Ehe. Seine Wohnung ist still und leer, sein champagnerfarbener Mazda ein Fluchtort, in dem er manches Mal auch schläft. Trauriger und blutiger Höhepunkt seiner einsamen Wochen und Monate: Zu Weihnachten schlägt er sich in einer Bar mit einem anderen Mann.
Jansen ist Vielleser und Autor, der sich mit einem Stipendium finanziell über Wasser hält, aber auch schon so bekannt ist, dass er von Unbekannten auf sein Schaffen angesprochen wird. Auch dies ist eine Parallele zu Petterson – ein sehr empfehlenswerter Beitrag über den Schriftsteller und sein „Double“ ist dazu auf Cicero Online zu finden -, der als 35-Jähriger mit „Aske i munnen, sand i skoa“ debütierte und in den folgenden Jahren zu einem der erfolgreichsten und angesehensten Schriftstellern seines Landes wurde. Die Liste der Preise, die der gelernte Bibliothekar und spätere Buchhändler bisher erhalten hat, ist lang und umfasst renommierte Ehrungen wie den Brage-Preis und den Literaturpreis des Nordischen Rates. 2019 kam die Verfilmung seines Romans „Pferde stehlen“ in die Kinos und wurde auf der Berlinale gezeigt. Das Lesen und Schreiben bildet eine wichtige Ebene in diesem Buch. Jansen wird von Bekannten „Knut Hamsun“ genannt. Wer „Männer in meiner Lage“ liest und Hamsuns Klassiker „Hunger“ aus dem Jahr 1890 kennt, wird Ähnlichkeiten feststellen. Auch da ist der Held ein Schriftsteller, der durch die norwegische Hauptstadt, damals noch Kristiania genannt, streift – wenngleich dieser hungert und obdachlos ist. Ganz allgemein ist Pettersons Buch ein Roman über diese faszinierende Stadt am Meer. Immer wieder lösen die Orte, die Jansen aufsucht, Erinnerungen aus. Dankenswerterweise enthält die deutsche Ausgabe Karten von Oslo und Umgebung.
„Du kannst zurückschauen, sagte Magnar, du kannst dich zurücksehnen und dir Dinge einbilden, aber du kannst nicht zurückkehren.“
Sechs Jahre hat Petterson an seinem jüngsten Werk geschrieben, das wieder ein sehr stilles, menschliches Buch mit einer großen Sogkraft ist, wobei der Norweger dafür bekannt ist und von Lesern sowie Kritikern geschätzt wird. Der Roman zieht den Leser tief in die Lebens- und Leidensgeschichte des Ich-Erzählers hinein und verbindet ihn mit dessen Gedanken und Gefühlen, mit dessen Vergangenheit und Gegenwart. Neben einer schmerzlichen Melancholie hat dieser poetische Roman jedoch auch seine humorvolle Seite – und verbreitet mit dem überraschenden Auftritt Auduns gegen Ende des Romans auch ein kleines Stück Hoffnung. Mit ihm führt der einsame, trauernde und in sich gekehrte Held ein langes Telefongespräch – von Freund zu Freund, von Mann zu Mann, obwohl bereits vor einiger Zeit zwischen ihnen der Kontakt abgebrochen war.
Per Petterson: „Männer in meiner Lage“, erschienen im Hanser Verlag, in der Übersetzung aus dem Norwegen von Ina Kronenberger; 288 Seiten, 22 Euro
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