„Mensch bleiben. In Zeiten wie diesen war das schon eine politische Aussage.“
Nur mit einem Koffer, dem Manuskript seines aktuellen Romans und einer tragbaren Remington Modell 5 verlässt Erich Maria Remarque (1898 – 1970) in seinem Lancia Berlin. Erst auf Bitten seiner Geliebten Ruth ergreift er die Flucht. Eine eisige Nacht herrscht. Einen Tag später wird Adolf Hitler zum Reichskanzler gewählt. Wenige Monate später werden auf dem Berliner Opernplatz die Bücher des Schriftstellers und Verfassers des bis heute weltbekannten und einflussreichen Antikriegsromans „Im Westen nichts Neues“ (1929) verbrannt. Mehrere Jahre lebt Remarque fortan im Exil in der Schweiz, in seiner Villa im beschaulichen Ascona, am Lago Maggiore gelegen, ehe er schließlich 1938 die Queen Mary gen Übersee besteigen wird. Über diese Zeit, jene fünf Jahre, hat Edgar Rai einen Roman geschrieben, der eindrücklich die bedrohliche Lage der Exilanten beschreibt und einen Einblick in das Seelenleben des Schriftstellers gibt.
Zufluchtsort der heimatlosen Künstler
In Ascona hat sich bereits eine Exil-Gemeinschaft formiert, die ständig in Bewegung ist, die einen gehen, die anderen kommen. So trifft Remarque auf seinen Schriftsteller-Kollegen Emil Ludwig, auf die Malerin Marianne von Werefkin, die Schauspielerin Tilla Durieux. Er begegnet Else Lasker-Schüler, später auch Leonhard Frank und Ernst Toller. In Ascona haben sich darüber hinaus der Bankier und Kunstsammler Eduard Freiherr von der Heydt und Max Emden, Sprössling eines betuchten Warenhaus-Besitzers, niedergelassen. Eine eigenartige Atmosphäre liegt über dem malerischen Ort, an dem die einen das Leben genießen, die andere am Abgrund stehen, während absurderweise die Golfer aus nah und fern nach Ascona strömen, um den neu errichteten Golfplatz in Beschlag zu nehmen. Auch Remarque bangt – um sich, seine Karriere, seine Ex-Frau Jutta, die er später ein zweites Mal heiratet, als beiden 1938 die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt wird. Die Schweiz ist keines der Länder, die Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen.
Rai schaut in die Seele Remarques, die nicht wenige dunkle Schatten offenbart. Er trinkt, er ist – um es salopp zu formulieren – ein Casanova und Charmeur. Er liegt den schönen Frauen zu Füßen – allen voran der Schauspielerin und Sängerin Marlene Dietrich, alias das Puma, die er nach einer ersten Begegnung in Berlin bei einem Besuch in Budapest wiedersieht und – ihr nahezu ausgeliefert – bis nach Paris folgsam folgt, während Jutta mit dem Krebs kämpft. Er liebt und leidet zugleich. Er ist keiner, dem man als Leser mögen muss, dessen verbissener Willen zu schreiben entgegen der herablassenden Kritik mancher großen Autoren jedoch Respekt abverlangt, dessen Selbstzweifel und düstere Todessehnsucht Mitgefühl wecken.
„Drei Kameraden“: Buch im Buch
Obwohl Remarque voll und ganz im Mittelpunkt steht, erzählt der Roman viele kleine Geschichten und Schicksale drumherum, die ein facettenreiches, eindrückliches, gar ergreifendes Abbild der damaligen Zeit erschaffen, in der die kommende Katastrophe schon längst ihren Schatten vorausgeworfen hat. Die großen Erschütterungen verängstigen die Exil-Gemeinde: das verlogene Schauspiel der Olympischen Spiele in Berlin, der Anschluss Österreichs an das Dritte Reich, der Einmarsch der Wehrmacht in Prag. Unendliche Trauer herrscht als Kurt Tucholsky und Ernst Toller den Freitod wählen, Joseph Roth an den Folgen seiner Alkoholsucht stirbt.

Und ein weiteres Thema durchzieht den Roman wie einen roten Faden. „Ascona“ ist zugleich ein Buch im Buch. Denn Remarque überarbeitet in jenen Jahren seinen Roman „Drei Kameraden“, dem er zuerst den Titel „Pat“ in Anlehnung an die Heldin gegeben und den er bei seiner Flucht 1933 mit sich geführt hatte. Die Handlung führt in die letzten Jahre der Zwanziger, in denen noch immer das Trauma des Ersten Weltkriegs düster nachhallt und die schon längst nicht mehr golden sind. Die Weltwirtschaftskrise, Inflation und Massenarbeitslosigkeit sorgen für Armut und Elend. Die politische Lage ist instabil. Der Nationalsozialismus hat tiefe Wurzeln geschlagen. 100.000 Mitglieder zählt die NSDAP bereits im Jahr 1929. Die langwierige Überarbeitung bringt Remarque indes in die Bredouille. Sein Agent Otto Klement macht ihm Druck, die ausländischen Verleger können nicht länger warten, wollen sich nicht länger vertrösten lassen. Vier Jahre gehen für die Überarbeitung ins Land. Nicht immer hat Remarque die Kraft fürs Lesen und Wiederlesen, das Schreiben, Streichen, Wiederschreiben. Schließlich erscheint der Roman zuerst fern der Heimat des Verfassers. 1936 werden bereits die Filmrechte an MGM verkauft. Regie führt Frank Borzage, das Drehbuch verfasst kein Geringerer als F. Scott Fitzgerald. Erst in jenem Jahr, als der Streifen in die Kinos kommt, erscheint die literarische Vorlage im Original – allerdings nicht in Deutschland, sondern im in Amsterdam ansässigen Exil-Verlag Querido.
„Ascona war eine blühende, farbenprächtige, duftende Illusion. In Wahrheit schlafwandelten sie alle auf einem Schwebebalken über dem Abgrund.“
„Ascona“ zieht den Leser unaufhörlich hinein in diese lichtlose und bedrohliche Zeit, in fünf Jahre eines unruhigen und unsicheren Schriftsteller- und Exilantenlebens, an vielen Stellen wird die Rolle und die Verantwortung des Künstlers in jener Zeit, die Bedeutung von Menschlichkeit sowie die Folgen von Heimatlosigkeit, Entwurzelung und die Angst vor der Zukunft beleuchtet. Rais Stil ist bildhaft und atmosphärisch, seine Sprache allerdings ab und an etwas zu burschikos, vor allem wenn es um die Liebesszenen geht. Trotzdem prägt sich das Buch beim Leser ein.
Edgar Rai: „Ascona“, erschienen im Piper Verlag; 256 Seiten, 22 Euro
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