„Die Gewalt hat mich nie verlassen.“
Ein Foto verändert das Leben von Nathan Fabre. Der junge Lehrer für Literatur besucht mit Schülern die Gedenkstätte des Konzentrationslagers Buchenwald bei Weimar; keine deutsche Stadt vereint in seiner Geschichte Hochkultur und tiefste dunkle Grausamkeit. Ein Mann auf jener Aufnahme sieht seinem Vater unglaublich ähnlich. Fabre begibt sich auf Spurensuche und lüftet ein Familiengeheimnis, das unter dem Schweigen seiner Vorfahren für ihn verborgen geblieben war. Der Schriftsteller Fabrice Humbert verbindet in seinem preisgekrönten autobiografisch geprägten Roman auf beeindruckende Art und Weise französische mit deutscher Geschichte, Facetten seiner eigenen Familienhistorie mit Fiktion.
Mit 13 Jahren Verspätung in deutscher Übersetzung erschienen
An dieser Stelle soll und muss vorangestellt werden, dass dieses Buch trotz seines besonderen weil stets aktuellen Themas und seines Erfolgs im Heimatland des Autors erst mit einiger Verspätung nun in deutscher Übersetzung erschienen ist. Zwischen der französischen Originalausgabe „L‘origine de la violence“, für die Humbert mehrere Auszeichnungen erhielt, und der deutschen Ausgabe liegen sage und schreibe gut 13 Jahren, obwohl seit 2016 bereits eine Verfilmung existiert und sein neuester Streich unter dem deutschen Titel „Die Gesichter des Ethan Shaw“ (Ullstein) bereits veröffentlicht wurde.
Es war einst auch ein Foto in der Gedenkstätte Buchenwald, das den Franzosen zu seinem Roman inspiriert hatte und in dessen Familie es ebenfalls einen Mythos gibt: Sein Großvater gilt seit dem Zweiten Weltkrieg als verschwunden. Und wie der Held in seinem Buch ist auch Humbert Lehrer für Literatur an einem deutsch-französischen Gymnasium. Es gibt also einige Parallelen zwischen dem Schriftsteller und der Geschichte seines facettenreichen Romans, der viele Ebenen und Themen in sich vereint.
Nathans Geschichte, der Protagonist und zugleich Ich-Erzähler ist, fächert sich förmlich auf nach der Entdeckung jenes unheilvollen Fotos aus dem Jahr 1941, das seinen richtigen Großvater David Wagner als Häftling sowie den berüchtigten KZ-Arzt Erik Wagner, also Opfer und Täter, zeigt. Der Lehrer beginnt zu forschen und kommt dabei mit den verschiedensten Personen ins Gespräch, darunter Mitgefangene sowie Mitglieder seiner eigentlich zweigeteilten Familie: Denn Marcel Fabre ist nicht sein leiblicher Großvater, wie alle es ihm glaubhaft gemacht haben. Vielmehr entstammt sein Vater Adrien aus einer geheimen wie leidenschaftlichen Liebesbeziehung zwischen Fabres Frau Virginie und David, ein junger Jude, der als Kind mit der Familie von Polen nach Frankreich gekommen war und dank seines Charismas den gesellschaftlichen Aufstieg versucht. Nathan rekonstruiert die schreckliche Wochen und Tage, nachdem David verraten und in das KZ verschleppt wurde. Wie er im Steinbruch und später als Kalfaktor im Haus des Lagerkommandanten Koch schuftet, täglich ums Überleben kämpft, um schließlich ins Visier des gefürchteten Lagerarztes Wagner zu geraten.
„Mein Großvater hatte keinen Anspruch auf einen Prozess. Erik Wagner spritzte ihm einfach Gift. Die Anklageschrift war das Gleichnis vom Juden.“
Nathan lernt schließlich zufällig während einer weiteren Klassenfahrt nach Deutschland die Enkelin des früheren Weimarer Landrats Lachmann kennen. Sie verlieben sich, ziehen in Berlin in eine gemeinsame Wohnung. Wie sein Vater warnt auch sie ihn, seine Recherchen literarisch zu verarbeiten. Doch für ihn stellen sich mit seinen Nachforschungen auch ganz persönliche Fragen: Warum ist er, wie er ist, warum neigt er zu Gewalt- und Angstausbrüchen, warum erscheint sein Vater ihm wie aus der Familie – die Fabres sind wohlhabend und durch Ämter in Politik, Wirtschaft und Verwaltung recht angesehen – gefallen und ein intellektueller Sonderling zu sein? Der Roman verbindet indes nicht nur eine eindrückliche Familien- und Sozialhistorie mit dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte. Humbert lässt den Helden immer wieder über Gewalt und das Böse sinnieren sowie die deutsche Aufarbeitung und Erinnerungskultur kommentieren. Es sind Passagen mit essayistischen Zügen und literarischen Verweisen, die ergänzt werden von den Schilderungen über Leben und Sterben im Buchenwald sowie biografischen Fakten zu den Tätern.
64.000 Menschen starben
1937 von der SS errichtet, starben im KZ Buchenwald, welches mit 139 Außenlagern das größte seiner Art auf dem Gebiet des Drittens Reiches war, bis Kriegsende rund 56.000 Menschen; hinzukommen 8.000 sowjetische Kriegsgefangene, die erschossen wurden. Die Häftlinge starben an Krankheiten wie Typhus, Ruhr und Tuberkulose, an Hunger, Kälte und Auszehrung sowie medizinischen Versuchen, sie wurden totgeschlagen, erschossen, mit einer Giftinjektion ermordet. Viele wurden in andere Lager verschleppt, so auch ins Vernichtungslager Auschwitz. Jeder Tag war ein Tag entsetzlicher Qualen und Angst. Am 6. April löste der damalige Kommandant Hermann Pister das Lager auf und schickte die Häftlinge auf Todesmärsche. Wenige Tage später erreichten amerikanische Soldaten eines Panzerbataillons das Gelände auf dem Ettersberg. 1958 wurde eine Mahn- und Gedenkstätte eingeweiht, die nach der Wende mit wissenschaftlicher Begleitung neu konzipiert wurde. Zu den prominenten Häftlingen zählen der Theologe Dietrich Bonhoeffer, der Diplomat und politische Aktivist Stéphane Hessel sowie die Schriftsteller Bruno Apitz, Elie Wiesel, Imre Kertész und Jorge Semprun, der im Roman auch zitiert wird und Humbert für sein Werk nach dessen Erscheinen beglückwünschte.
Fabrice Humbert: „Der Ursprung der Gewalt“, erschienen im Verlag Elster & Salis, in der Übersetzung aus dem Französischen von Claudia Marquardt; 320 Seiten, 24 Euro
Danke für die tolle Besprechung! Das Buch steht auch noch bei mir im Regal und wartet darauf, endlich begonnen zu werden. Das werde ich am Wochenende dann jetzt anfangen. 🙂
LikeGefällt 1 Person
Sehr gern! Das Buch wird eines meiner Highlights des Jahres, das kann ich schon sagen. Viel Freude bei der Lektüre, auch wenn das Thema ein sehr dunkles ist. Viele Grüße
LikeLike