Heidi Sævareid – „Am Ende der Polarnacht“

„In der Polarkälte rast die Zeit davon. Jede Entscheidung zählt.“

Es ist kaltes Land. Im Winter klettert die Sonne nicht über den Horizont. Nur das flimmernde zuckende Polarlicht erhellt das Firmament auf nahezu magische Weise. Im Sommer wird die Nacht zum Tag. Die Arktis ist eine eigene Welt, in der Eisbär und Polarfuchs heimisch sind. Zu ihr gehört hoch im Norden auch das Archipel Svalbard mit der Hauptinsel Spitzbergen. Dorthin und zugleich in die 1950er-Jahren entführt die norwegische Autorin, Übersetzerin und Kritikerin Heidi Sævareid mit ihrem eindrücklichen Roman „Am Ende der Polarnacht“, mit dem sie auch die Geschichte ihrer Großeltern erzählt.

Im Winter abgeschnitten vom Rest der Welt

Gunnar und Margrethe Bjørner, Sævareids Großvater und Großmutter, werden zu Finn und Eivor Nydal, die mit ihren kleinen Töchtern Lisbeth und Unni Oslo verlassen und nach Longyearbyen auf Spitzbergen ziehen. Er folgte dem Ruf der Kohlekompanie, die einen Werksarzt für das örtliche Krankenhaus braucht, in dem die Familie eine eigene Wohnung bezieht. Seine Frau sorgt sich derweil um Kinder und Haushalt. Die Tage sind lang. Zunehmend geht Eivor ihre eigenen Wege, zieht mit der Husky-Hündin Jossa, zu der sie eine besondere Beziehung aufgebaut hat, auf Skiern und zum Schutz vor Eisbären mit einem Gewehr ausgestattet auf langen Touren durch die Gegend. Sie meidet die Gesellschaft, während ihr Mann sich in die Gemeinschaft begibt und beliebt ist, sie sehnt sich nach dem Süden, während er ihren Aufenthalt als Abenteuer und Herausforderung betrachtet. Die eiskalten und dunklen Wochen und Monate, in denen aufgrund des Packeises kein Schiff anlegt, um Post und Waren zu bringen und die Bewohner von den Vorräten leben müssen, kein anderer Mensch an Land kommt und die Insel vom Rest der Welt abgeschnitten ist, erweisen sich als schwere herausfordernde Zeiten.

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In der Familie kommt es zu Spannungen, die Stimmung zwischen den jungen Eltern trübt sich merklich ein, vieles bleibt ungesagt. Doch auch andere Bewohner kämpfen mit den unwirtlichen und teils menschenfeindlichen Bedingungen. Es kommt zu Schlägereien, der Drang zum Alkohol ist groß. Jan Heiberg, ein Freund der Familie und Versorgungschef, kämpft mit psychischen Problemen, die sich im Verlauf der Handlung zuspitzen.

„Da sieht sie ihn – den riesigen, schwarzen Moschusochsen, der den Hang hinter dem Hang hinter dem Krankenhaus hinauf durch den Schnee zuckelt. Er bleibt stehen, schüttelt sein struppiges Fell. Dann stapft er weiter, den Berg hinauf und wird eins mit der Finsternis.“

Mit dem Buch findet sich der Leser nicht nur wegen der extremen Lage des Schauplatzes an einem fremden Ort wieder. Spitzbergen zeigt sich in dem Roman nicht als hipper Touristen-Ort. Vielmehr zeichnet die Kohle-Industrie mit ihren Bergwerken die Siedlung, über den Straßen und das angrenzende Land liegt dunkler Staub. Immer wieder kommt es unter Tage zu Unglücken, bei denen Bergmänner verletzt werden. Abwechslung bieten Feste oder sportliche Wettkämpfe, wobei sogar letztere unter dem Schatten des Kalten Krieges liegen, denn auf Svalbard befindet sich mit Barentsburg eine russische Siedlung. Das Verhältnis zur Sowjetmacht ist Gesprächsthema und immer wieder Grund für hitzige Diskussionen.

Sævareid beschreibt in ihrem Roman die Geschehnisse von gut einem Jahr, in dem sich Polarnacht und Polartag abwechseln, Frühling und Herbst von kurzer Dauer sind. Die Eisschmelze nach Ostern bedeutet eine Zeitenwende, im Juni fährt die Familie mit dem Kohledampfer in den Süden. Mittendrin die Erinnerungen Eivors, die zurückblickt, als sie Finn kennenlernt, ihn heiratet. Über diesen familiären Rahmen hinaus lädt dieses Buch den Leser ein, sich mit dem Ort auseinandersetzen, über ihn mehr zu erfahren. Eine Gegend, die wohl noch viele weitere Geschichten erzählen könnte. Zwar bereits in mittelalterlichen norwegischen Schriften erwähnt, war es der niederländische Seefahrer Willem Barents (1550 – 1597), der als der Entdecker der arktischen Inselgruppe gilt, die allerdings erst mit der Jahrhundertwende aufgrund ihrer reichen Kohle-Vorkommen besiedelt wurde. Mit dem sogenannten Spitzbergen-Vertrag fiel das Archipel 1920 Norwegen zu. 1932 wurde die im Buch erwähnte russische Siedlung und Polarstation Barentsburg gegründet. Die ebenfalls im Roman beschriebenen Moschusochsen, die ähnlich den Rentieren den Häusern recht nahe kommen, leben dort seit den 80er-Jahren nicht mehr. Immer noch heimisch sind indes Eisbären, die unter Schutz stehen und nur in Notwehr getötet werden dürfen. Zum Schutz von Kreuzfahrt-Touristen gibt es sogenannte Eisbärenwächter. Heute spielen der Tourismus sowie die Arktis-Forschung eine große Rolle. Neben einer Universität ist auf Spitzbergen auch die weltgrößte Samenbank (Svalbard Global Seed Vault) zu finden, wo Hunderttausende Samen von Tausenden Nutzpflanz-Arten eingelagert sind.

Für den renommierten Brage-Preis nominiert

Die norwegische Autorin, 1984 geboren und heute in London lebend, ist in ihrer Heimat bereits mit ihren Kinderbüchern bekannt geworden. „Am Ende der Polarnacht“ – das Original trägt den Titel „Longyearbyen“ nach der gleichnamigen größten Siedlung auf Spitzbergen benannt – ist ihr erster Roman für Erwachsene, mit dem sie für den renommierten Brage-Preis sowie für den Norwegian Young Reader’s Critics Prize nominiert war. Ihr Werk besticht durch eine sehr ruhige Erzählweise. Die Autorin lässt sich Zeit, die Figuren, ihre Handlungen, Eigenschaften und Beziehungen, sehr detailreich und genau in einer klaren, fast achtsamen Sprache zu schildern – trotz spannungsgeladener Konflikte und dramatischer Geschehnisse. Die Beschreibungen der Landschaft sind überaus bildhaft und eindrücklich und lassen Spitzbergen zu einer Hautperson des facettenreichen Romans werden.

„Am Ende der Polarnacht“ ist ein Buch, das die Zeit anhält, in dem man nahezu verharren kann. Und das mehr erzählt als nur eine Familiengeschichte und das liebevoll gezeichnete, aber auch vielschichtige Porträt einer Frau und Mutter. Es geht um Spitzbergen und seine Menschen, die in einer der unwirtlichsten Gegenden der Erde ansässig sind und sich mit dem rauen Leben arrangiert haben, das allerdings auch Opfer erfordert. Wenn ich Bücher aus Norwegen lese, fühle ich mich aufgrund meiner eigenen Familiengeschichte fast wie daheim. Auch mit diesem wundervollen, an einem der extremsten Orte spielenden Roman. Ein Buch, das viel erzählen, viel lehren kann.

Eine weitere Besprechung gibt es jeweils auf den Blogs „literaturleuchtet“ und „schreiblust-leselust“.


Heidi Sævareid: „Am Ende der Polarnacht“, erschienen im Insel Verlag, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Karoline Hippe; 350 Seiten, 23 Euro

Foto von Sebastian Bjune auf Unsplash

2 Kommentare zu „Heidi Sævareid – „Am Ende der Polarnacht“

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