Knut Hamsun – „Hunger“

„Ich war vom Hunger betrunken, mein Hunger hatte mich berauscht.“

Er geht durch die Straßen seiner Stadt. Rast- und ruhelos – und hungrig. Oft weiß er nicht, wo er die Nacht verbringen kann. Seinen Besitz hat er nach und nach im Pfandhaus verscherbelt. Mit dem Schreiben für Zeitungen hält er sich so gut es geht über Wasser. Der schmale Roman „Hunger“ machte nach seinem Erscheinen 1890 Knut Hamsun (1859 – 1952) weltbekannt. Große Autoren wie Thomas Mann, Franz Kafka und Arthur Schnitzler lasen seine Werke und verehrten den späteren Literaturnobelpreisträger. Mit dem Zweiten Weltkrieg dann die Wende: Hamsun wird zur Persona non grata erklärt. Und auch heute noch gleicht die Auseinandersetzung mit seinem Leben und Schaffen einer Gratwanderung. Gut 70 Jahre nach seinem Tod werden die Werke des Norwegers gemeinfrei. Im Manesse Verlag erschien nun „Hunger“ in einer Neuübersetzung der Urfassung von 1890.

Ein Wiederlesen

In einem meiner Regale steht ein dünnes Taschenbuch, 1978 erschienen, ein Jahr nach meiner Geburt. Der Band enthält zahlreiche bunte Haftnotizen. Auf den bereits vergilbten Seiten finden sich Anmerkungen, sind Passagen mit Bleistift angestrichen. Erschienen im Reclam-Verlag, hat mich das Buch mehrere Monate begleitet – am Ende eines besonderen Lebensabschnitts. „Hamsuns frühe Werke und die deutsche Literatur der Jahrhundertwende“ lautete das Thema meiner Magisterarbeit, die ich nun ebenfalls zur Hand nehme; nicht ohne in der einen oder anderen Erinnerung zu schwelgen, auch eine gewisse Wehmut kommt auf. Was war das nur für eine intensive Zeit des Lesens, Lernens und Schreibens. Nun, mehr als 20 Jahre später, eine Wiederbegegnung, ein Wiederlesen von Hamsun.

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Warum ein Norweger am Ende des Studiums? Warum nicht eine Autorin oder ein Autor aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz? Das ist schnell erklärt mit einem Blick auf meine Familiengeschichte, die ich bereits in meinem Beitrag zur Frankfurter Buchmesse 2019, als Norwegen sich als Gastland präsentierte, erzählt habe: Meine Großmutter Signe war Norwegerin. An der Seite eines deutschen Soldaten, meinem Großvater, verließ sie ihre Heimat, die sie in den folgenden Jahren nie mehr wieder sehen sollte. Denn sie bekam die notwendige Ausreisegenehmigung nicht. Ich habe sie nie kennenlernen dürfe, sie starb wenige Jahre vor meiner Geburt. Es ist ein merkwürdiges Gefühl als Nachfahrin, über eine dunkle Zeit zu schreiben, die das Leben aller verändert hat, die Familienfäden auseinanderriss, um neue zu knüpfen, die einen großen weil angesehenen Schriftsteller zu einem verfemten Mann machte, der sich schließlich wegen Landesverrats verantworten musste. Hamsun, der ein besonderes Verhältnis zu Deutschland pflegte, stand auf der Seite der Besatzer, er huldigte der deutschfreundlichen Schattenregierung unter Vidkun Quisling. Seine Nobelpreis-Medaille, die er 1920 erhalten hatte, schenkte er Joseph Goebbels, nach dem Tod Adolf Hitlers schrieb er einen Nachruf auf den Führer und Diktator, der das Grauen über die Welt brachte, für die Zeitung „Aftenposten“. 

Umschlag wie Schleifpapier 

Wer Hamsun heute liest, sollte dessen Biografie nie aus den Augen verlieren. Die Neuübersetzung des Manesse Verlages findet sich nicht in der bekannten, vor einigen Jahren neu gestalteten und farbenfrohen Klassiker-Edition. Der düstere Umschlag des Bandes mit den schwarzen Lettern ist in einem herben Kontrast aus dunklen sowie hellen Tönen gehalten, seine spezielle Haptik erinnert ein wenig an Schleifpapier. Die Gestaltung im Vergleich zum Reclam-Bändchen aus den 70er-Jahren ist eine andere, die Lektüre allerdings ähnlich intensiv und bedrückend. „Hunger“ gilt als richtungsweisender Vorläufer der Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms, der später in den Werken weiterer bekannter Autoren zu finden ist. Wie bei James Joyce, William Faulkner, Virginia Woolf oder auch Alfred Döblin.

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Knut Hamsun, 1890. (Foto: Wikipedia)

Ein namenloser Ich-Erzähler schildert seine Erlebnisse und Eindrücke, seinen psychischen wie physiologischen Zustand. Er streift durch die Straßen Kristianias, das heute Oslo heißt. Einige Orte sucht er regelmäßig auf, einigen Menschen begegnet er mehrmals – wie dem Pfandleiher und dem Redakteur, dem er seine Texte gibt. Die Beschreibung der Umgebung und von Personen ist ähnlich detailreich wie die Schilderung seines Zustandes. Wie tagelanger Hunger sich auf Körper und Geist auswirken kann, wird in Hamsuns Frühwerk drastisch aufgezeigt: Tagträume und eine gewisse Todessehnsucht begleiten den Ich-Erzähler, er ist nervös und führt Selbstgespräche. Er leidet unter Schwindel und Erschöpfung. Essen, was er zu sich nimmt, hält er nicht lange bei sich.

„Du bist in einem Ausnahmezustand der Beeinträchtigung, kämpfst nachts mit den Mächten der Dunkelheit und großen, lautlosen Ungeheuern, dass es ein Grauen ist, hungerst und dürstest nach Wein und Milch und erhältst beides nicht. So weit ist es mit dir gekommen.“

Mit dem Verfall setzt eine andere Selbstwahrnehmung ein. Er schwankt zwischen Hoffnung und Depressionen, hält sich für minderwertig – vor allem im Umgang mit einer jungen Frau, der er eines Tages begegnet und die er Ylajali nennt. Er ist mal freundlich zu den Menschen, dann wieder ein Ekel, der andere beschimpft. Liegt bereits im abfälligen Blick des Helden auf Personen und auf der Betonung des Unansehnlichen die Menschenverachtung und der Chauvinismus des Autors, dessen Antisemitismus in späteren Werken sichtbar wurde? Der Hungerheld klagt die Ungerechtigkeit an, verhöhnt Gott. Warum er in die prekäre Lage gekommen ist, wird an keiner Stelle erklärt. Doch auch in guten Zeiten begleitete ihn der Hunger, wenn er durch seine Arbeit das Essen vergaß. Durch den inneren Monolog ist der Leser nah am Protagonisten und seiner Welt. Und trotz eines Verständnisses für die Notlage, ist der Held nicht unbedingt ein Mensch, den man mögen muss. Hamsuns sprachliche Größe wird auch in den Beschreibungen der Natur sichtbar, wenn er den Wald und das Meer am Hafen schildert. Ein stiller Kontrast zur Hektik, Anonymität und Unerbittlichkeit einer Großstadt mit ihren Schicksalen und sozialen Verwerfungen.

1877 erscheint Debüt

Hamsun weiß, wovon er schreibt. Er wächst in ärmlichen Verhältnissen auf. Am 4. August 1859 als Knud Pedersen in der Kleinstadt Lom als Sohn eines Schneiders geboren, kommt Hamsun als Kind auf den Pfarrhof eines Onkels. Damit seine Eltern ihre Schulden tilgen können, erledigt ihr Sohn die Schreibarbeiten. In der gemeindeeigenen Bibliothek kommt er in Kontakt mit skandinavischen Klassikern und Märchen. Dem prügelnden Onkel kann Knud mit 14 entfliehen, er schlägt sich später als Ladendiener, Schuhmacher oder Hilfslehrer durch. 1877 erscheint Hamsuns erster Roman „Der Rätselhafte“. In den 1880er-Jahren geht er nach Amerika und spricht in norwegischen Kleinstädten über Literatur und große Autoren wie Strindberg und Kielland. Sein Wissen eignet er sich autodidaktisch an – durch seine Lektüren, auf seinen Wanderungen durch Norwegen.

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Kristiania, 1890, Blick auf Karl Johans Gate und Schloss (Foto: unbekannt, Swedish National Heritage Board from Sweden)

1890 veröffentlicht Hamsun seine Streitschrift „Vom unbewussten Seelenleben“, in dem er mit dem Realismus und Naturalismus der zeitgenössischen Literatur abrechnet. Bereits zwei Jahre zuvor wurde das zweite Kapitel des aus vier Kapiteln bestehenden Werks „Hunger“ anonym in der dänischen Zeitung „Ny Jord“ abgedruckt. In Deutschland wurde der Roman zuerst in gekürzter Form in der Zeitschrift „Freie Bühne“ veröffentlicht, ehe er 1891 vom Verleger Samuel Fischer in der Übersetzung von Marie von Borch herausgegeben wurde.

Wink zur Gegenwart

Ulrich Sonnenbergs Übersetzung nun holt den Text der Urfassung – Hamsun hat sein Werk in den Folgejahren mehrmals überarbeitet – in all seiner Dramatik und drastischen Wirkung ins Hier und Jetzt. Ortsnamen wie Straßen und Plätze belässt er im norwegischen Original. Wer Oslo besucht hat und kennt, wird sich sicherlich an einige Örtlichkeiten erinnern. In ihrem Nachwort schlägt Felicitas Hoppe den Bogen zur Gegenwart, wenn sie schreibt: „Hamsun bleibt Hamsun, der Text bleibt Geschichte, obwohl er permanent eine Gegenwart aufruft, die uns auf bedrückende Weise bekannt vorkommt.“ Gerade auch deshalb sollte dieses Meisterwerk noch immer gelesen werden – trotz oder auch wegen Hamsuns Hinwendung zum Nationalsozialismus, von dem gerade auch jene verfolgt wurden, die den Norweger verehrt haben, wie beispielsweise Thomas Mann, Alfred Döblin, Bertolt Brecht und Stefan Zweig. An einer Stelle schreibt Hoppe treffend: „Hamsuns Genie lässt sich so wenig laudieren, wie man es ernsthaft verteufeln kann.“

Nach der Neuübersetzung von „Hunger“ erscheint im März im Kröner Verlag ein weiteres Frühwerk Hamsuns: „Benoni“; ebenfalls in einer Neuübersetzung, die Gabriele Haefs übernommen hat. Weitere Titel könnten demnächst folgen, was zu begrüßen wäre. Denn gerade eine solche Auseinandersetzung mit einem für seine Haltung und sein Verhalten umstrittenen Autor bedeutet auch eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Hamsuns Heimatland ist noch immer in diesem Prozess – fast 80 Jahre nach Kriegsende. Noch Jahrzehnte nach seinem Tod wurde keine Straße, kein Platz nach ihm benannt. Der Vorschlag, den Platz vor dem Osloer Hauptbahnhof  nach dem großen Schriftsteller zu benennen, löste 2009 eine heftige Diskussion aus. 2010 öffnete das Hamsun Centre im nordnorwegischen Hamarøy als Literaturhaus und Dokumentationszentrum seine Pforten für die Öffentlichkeit. Der 20-Millionen-Euro-Bau, entworfen von dem amerikanischen Architekturen Steven Holl, wurde mit dem „International Architecture Award“ ausgezeichnet.


Knut Hamsun: „Hunger“, erschienen im Manesse Verlag, nach der Erstausgabe von 1890 in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg, mit einem Nachwort von Felicitas Hoppe; 256 Seiten, 25 Euro

Foto von Sigmund auf Unsplash

6 Kommentare zu „Knut Hamsun – „Hunger“

  1. Ein toller Beitrag mit soviel Hintergrundwissen! „Hunger“ ist für mich ein sehr eigenartiges Werk (und einzigartig): Obwohl es so wirklich von großem Können geprägt ist (ich habe allerdings nur die alte Übersetzung), ich habe beim Lesen so einen inneren Widerstand gegen den Ich-Erzähler aufgebaut, was war für mich kaum auszuhalten …

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    1. Vielen Dank, liebe Birgit, für Dein Lob. Ja, mir war der Ich-Erzähler auch nicht unbedingt sympathisch. Obwohl ich mich frage, ob seine abfälligen Beschreibungen nicht auch Folge seines Hungers sind. Die Darstellungen des Hungers und der Armut sind drastisch und seine Lage furchtbar, aber bei mir stellte sich irgendwie kein Mitgefühl für den Helden ein. Liebe Grüße

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      1. Du hast bestimmt auch das Literarische Quartett gesehen, als es um diesen Roman ging? Die Diskussion war auch sehr spannend!

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