Lidia Ravera – „Sprich mit mir“

„Wer schreibt, um zu vergessen, erreicht nur, dass er sich erinnert.“

Sie lebt zurückgezogen. Wie eine Einsiedlerin. Ihre Wohnung am Stadtrand von Rom unweit des Tibers ist ihr Rückzugsraum. Sie liest Bücher, hört Musik, ihre Spaziergänge führen sie in die nähere Umgebung. Giovanna ist sich selbst genug, den Kontakt zu anderen Menschen meidet sie. Doch eines Tages zieht eine vierköpfige Familie in die lange Zeit leerstehende Nachbarwohnung ein. Die eher schweigsame wie scheue 66-Jährige kann da noch nicht ahnen, dass ihr Leben auf den Kopf gestellt und sie mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wird. Die italienische Schriftstellerin Lidia Ravera hat mit „Sprich mit mir“ ein faszinierendes Porträt einer besonderen Frau geschrieben und verbindet ein spezielles Kapitel der Geschichte ihres Landes mit der Gegenwart.

Familie trifft auf Einsiedlerin

Maria und Michele sowie ihren beiden Kinder Malcolm (13) und Malvina (3) werden Giovannas Nachbarn. Erst ziehen die Eltern ein, später folgen die Kinder. Neugierig, fast schon obsessiv verfolgt sie fortan die Geschehnisse hinter der Wand, die ihr Wohnzimmer von dem Schlafzimmer des Paares trennt. Ist der Kontakt zu Beginn noch etwas sporadisch, verändert ein Missgeschick die nachbarschaftliche Beziehung. Malcolm schließt sich eines Tages aus. Giovanni hilft ihm und wird zum Dank zum Essen eingeladen. Mehr und mehr wird die ältere Frau in das Leben der Familie hineingezogen, um schließlich während der Abwesenheit Micheles, der als Musiker auf Tournee geht, auf Malvina aufzupassen. Giovannas Zuneigung zu den Kindern wächst, während sie zunehmend das Vertrauen der Eltern gewinnt.

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Es könnte alles so harmonisch und friedvoll sein, wenn nicht eines Tages Pietro, Marias Vater, auftaucht, der Giovanna umwirbt. Allerdings nicht aus tiefen Gefühlen heraus, sondern aus einem perfiden Motiv heraus. Er kennt die dunkle Seite ihrer Lebensgeschichte.

Giovannas Vergangenheit bekommt der Leser tröpfchenweise serviert oder Stück für Stück wie auf einer Schnitzeljagd. Es sind immer wieder Hinweise, die die Heldin und zugleich Ich-Erzählerin in ihrem Bericht einstreut und die letztlich ein auch erschütterndes Bild ergeben. Giovanna war einst als junge Frau eine politische Aktivistin – in den sogenannten „bleiernen Jahre“ nach 1968, als Gewalt und Terror in Italien herrschten, Entführungen, Anschläge und Morde geschahen. Sie gehörte einer militanten Gruppe an, verbrachte mehrere Jahre im Gefängnis. Ihr späteres Leben – getrieben und gezeichnet von einem stetigen Fluchtimpuls und Misstrauen. Als Pietro und seine Freunde ihr Vorwürfe machen, kennt sie nur einen Ausweg. Einfach weg, sich auflösen. Aus Schmerz und Scham.

„Ich hatte die Kraft der Erzählung vergessen. Die Handlung, die die Worte peitscht und aufreiht, bis sie ein Bild ergeben. Du weißt nicht wirklich, wohin die Erzählung dich bringen kann. Du beschließt aufzuhören, nicht weiterzuschreiben, als könnte das traurige Märchen deiner Irrtümer dir das Leben in der Gegenwart schwer machen.“

Raveras Roman überzeugt nicht nur durch seine intelligente und dadurch spannungsaufbauende Struktur. Wie in „Das verbotene Notizbuch“ von Alba de Céspedes – einem wiederentdeckten Klassiker der italienischen Literatur – steht eine schreibende Heldin im Mittelpunkt, die durch das Schreiben in sich Veränderungen wahrnimmt. Das Schreiben hat etwas eruptives, Erinnerungen und Gefühle treten plötzlich wieder zutage, eine andere eigene Wahrnehmung und Auseinandersetzung beginnen, obwohl Giovanna als Erzählerin oft auch den Faden verliert, sie zwischen den Zeiten hin und her springt, sich immer wieder auch selbst anspricht. Ihrem Notizbuch vertraut sie Geheimnisse an, leistet sie zugleich Abbitte.

Kein Ende ohne Drama

„Sprich mit mir“ – nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Roman von T.C. Boyle (2021) – hat zudem etwas ungemein Menschliches, gerade die innige Beziehung zwischen Giovanna und der kleinen Malvina, der „Großmutter wider Willen“, die noch ein anderes trauriges Geheimnis verbirgt, und der aufgeweckten Dreijährigen, die es liebt, auf Giovannas Bett zu hüpfen, werden mit sehr viel Wärme erzählt, so dass man auch als Leser eine gewisse Sympathie zu der Heldin mit ihrer dunklen Vergangenheit entwickelt. Wie zu Beginn wird Malcolm, der als Klimaschützer als Vertreter der heutigen jungen Generation stehen kann, eine Schlüsselrolle am dramatischen Ende einnehmen.

Lidia Ravera, 1951 in Turin geboren, gilt in ihrem Land als namhafte Journalistin, Autorin und Feministin. In Deutschland sind schon mehrere Werke von ihr erschienen, so „Schweine mit Flügeln“, ein fiktives Tagebuch, das die sexuellen Erfahrungen von Jugendlichen schildert und in Italien auf dem Index landete. In dem Erzählband „Schwestern“ schreibt sie von sechs verschiedenen Frauen. „Sprich mit mir“ wurde in ihrer Heimat zum Bestseller. Und das durchaus zu Recht: Denn der Roman ist spannend und ergreifend zugleich, enthält nachdenklich stimmende Passagen und überzeugt mit einer sehr einnehmenden Sprache, die es vermag, sowohl große Bilder als auch tiefgreifende Stimmungen und Gefühle sehr genau zu zeichnen.


Lidia Ravera: „Sprich mit mir“, erschienen im Rowohlt Verlag, in der Übersetzung aus dem Italienischen von Annette Kopetzki; 368 Seiten, 24 Euro

Foto von Maksym Harbar auf Unsplash

4 Kommentare zu „Lidia Ravera – „Sprich mit mir“

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