Von Ost nach Ost – Christa Wolf „Moskauer Tagebücher“

„Vielleicht leben wir zwischen diesen Bergen, beginnen zu ahnen, daß wir immer im Tal sein werden, beginnen darunter zu leiden, können uns aber aus eigener Kraft nicht aufschwingen.“

Das  Land und ihre Menschen ließen sie zeitlebens nicht los. Zehnmal reiste Christa Wolf (1929 – 2011) in die Sowjetunion; zuerst 1957 als junge Journalistin und Autorin, zuletzt 1989 als die Wende dem Sozialismus ein Ende setzte. Über ihre Reisen geben ihre Tagebücher Auskunft, die mehr sind als nur Einträge ihres eigenen Tuns. In ihren Texten, die sie nie als literarisch empfand und nun  von ihrem Mann Gerhard Wolf herausgegeben wurden, beschreibt sie das Land und das Leben, die Sorgen und Nöte der Menschen. 

42423Wolf zählt zu den großen deutschen Autorinnen, ist aus der DDR-Literatur und den literarischen Jahren nach 1989 nicht wegzudenken. Obwohl ihre Person und ihr Schaffen nicht immer unumstritten waren, ihr der zweifelhafte und bösartige Titel „Staatsdichterin“ verliehen wurde. Ihre bekanntesten Werke wie „Nachdenken über Christa T.“, „Der geteilte Himmel“, „Kein Ort. Nirgends“ oder „Kindheitsmuster“ werden auch in anderen Ländern gelesen und geschätzt. Das neueste Werk erscheint posthum wenige Jahre nach ihrem Tod mit dem Titel  „Moskauer Tagebücher. Wer wir sind und wer wir waren“ und enthält neben den Reiseaufzeichnungen Briefe, Fotografien sowie Texte von Wolf und anderen Autoren. Der Untertitel bezieht sich dabei auf eine Miniatur von Boris Pasternak, Schöpfer des weltberühmten Romans „Doktor Schiwago“.

Die Anlässe für Wolfs Reisen waren dabei recht unterschiedlich, mal dienstlich, mal privater Natur. Sie führten sie nicht nur nach Moskau, sondern unter anderem auch nach Armenien, an das Schwarze Meer und in das Baltikum. Während ihrer erste Reise war sie Teil einer Delegation aus DDR-Autoren. Auf der zweiten Reise anlässlich des Schriftsteller-Kongresses der UDSSR lernte sie Anna Seghers und Erich Strittmatter, Autor des mehrteiligen Roman-Zyklus „Der Laden“ kennen, auf der fünften Tour auf dem Wolga-Schiff „Gogol“ schließlich Max Frisch.

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Christa Wolf         Quelle: Bundesarchiv/Wikipedia

Mit jeder Reise und mit den Jahren entstanden enge Freundschaften zu russischen Autoren und Übersetzern, so auch zu den beiden Dissidenten Lew Kopelew und Efim Etkind. Auch zu Frisch hält Wolf lebenslang einen freundschaftlichen Kontakt, obwohl das erste Aufeinandertreffen beider aus unterschiedlichen Ländern und politischen Systemen kommend von anfänglicher Skepsis geprägt war.

Dabei zeigen diese im Nachlass gefundenen Texte sehr klar, dass Wolf den Sozialismus in der Sowjetunion und in ihrem Heimatland nicht nur aufgeschlossen und hoffnungsvoll, sondern auch durchaus sehr kritisch gegenüberstand. Obwohl die Ära Stalin bereits zu Ende war, lag der Schatten des Diktators und seines Systems des Grauens noch immer über dem riesigen Land. Unzählige Literaten und weitere Vertreter der Intelligenz zählten zu seinen Opfern, denen unermessliches Leid in den Gefängnissen und Lagern zugefügt worden waren. Die Schriftstellerin wird Zeugin von der Mangelwirtschaft. Die Zensur in beiden Staaten und die Selbstzensur der Autoren sind wiederkehrende Themen bei Gesprächen mit ihren Kollegen.  Manchmal erscheint es, dass der überbordende Wodka-Genuss, der an einigen Stellen beschrieben wird, Ergebnis der Unzufriedenheit der russischen Bevölkerung und eine Art Flucht ist.

„Ich erlebe nun also zum ersten Mal selbst das unangenehme Gefühl, darauf vertrauen zu müssen, daß alles, was man sagen wollte, in der Geschichte oder doch wenigstens zwischen ihren Zeilen steht und daß man, auch ohne Zusatz, verstanden wird.“

Auch wenn Wolfs Aufmerksamkeit vor allem der Literatur bei Besuchen von Autoren, Verlagen, Literaturzeitungen und den Museen zu Ehren literarischer Größen des Landes wie Lew Tolstoi, Maxim Gorki oder Anna Achmatowa gilt. Ihr stets neugieriger wie kritischer, aber vor allem emphatischer Blick ist auch auf die Menschen und ihre Lebensumstände gerichtet.  Ihre Notizen sind mal reportagehaft, sehr konkret und anschaulich, mal prägnant und verkürzt. Begleitet werden diese von einem erklärenden Text zu jeder Reise aus der Feder ihres Mannes sowie weiteren literarischen Beiträgen, wie Interviews, Briefe, Essays oder Nachrufe.  In dem Kapitel zur fünften Reise stehen sich Auszüge der Tagebücher von Wolf und Frisch gegenüber, wird das Treffen beider Autoren und die Wolga-Tour von beiden Seiten betrachtet.

Während ihrer letzten Reise in den Osten im Oktober 1989 wirft die politische Wende ihre Schatten voraus – mit der Ausreisewelle in Richtung BRD und der Verhaftung der älteren Tochter Annette während einer Demonstration. Christa und Gerhard Wolf werden später erfahren, wie intensiv sie von der Staatssicherheit der DDR bespitzelt worden sind. In der Zeit der Aufenthalte in der Sowjetunion übernahm der KGB diese Aufgabe, wie ein Dokument im Buch beweist. Der Band ist in seiner Gesamtheit  nicht nur ein eindrucksvolles und wertvolles Zeitdokument. Er zeigt zugleich ein sehr persönliches Bild von Christa Wolf auf ihrem Weg von einer jungen zu einer erfahrenen und erfolgreichen Autorin sowie ein faszinierendes Porträt eines facettenreichen wie zwiespältigen Landes. Zu wünschen wäre, dass es auch mit diesem Band gelingt, das Interesse sowohl für die deutsche Schriftstellerin als auch ihre russischen Kollegen lebendig zu halten.

Christa Wolf „Moskauer Tagebücher. Wer wir sind und wer wir waren“ erschien im Suhrkamp Verlag, herausgegeben von Gerhard Wolf unter Mitarbeit von Tanja Walenski; 266 Seiten, 22,95 Euro

Foto: pixabay.com

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