„Du tust, was du tun musst, aber mich kriegen sie nicht. Das Leben ist kurz. Die Ewigkeit ist lang. Ich schmuggle mich an Gott vorbei – auch er kriegt mich nicht.“
Der Gedanke, dem modernen Leben den Rücken zuzudrehen, sich in die wilde Natur zurückziehen und alle Brücken hinter sich abzubrechen, hat etwas faszinierendes wie beängstigendes. Einige sind dem Ruf der Wildnis gefolgt, manche waren erfolgreich, mit sich im Einklang und der schwierigen Herausforderung gewachsen, andere sind gescheitert. Die reale Historie des amerikanischen Studenten Christopher McCandless, unter dem Titel „Into the Wild“ von Jon Krakauer niedergeschrieben und verfilmt von Sean Penn, ist womöglich die bekannteste der tragischen Geschichten, in denen ein Mensch selbst gewählt das moderne und bequeme Leben verlässt. Als ich „Der Andere“ von David Guterson nun las, erinnerte mich an jenen beeindruckenden Film. Und der Roman des Amerikaners, der mit seinem Buch „Schnee, der auf Zedern fällt“ berühmt wurde, ist nicht minder ergreifend.
Während eines 800-Meter-Laufes lernen sich John William, Internatsschüler sowie Sohn reicher Eltern, und Neil Countryman aus einfachen Verhältnissen stammend kennen. Sie werden Freunde, beide verbinden Schicksalsschläge (Neils Mutter starb als er zwölf Jahre alt war, Johns Mutter kommt geistig verwirrt in die Psychiatrie) sowie die Leidenschaft für die Natur. Sie erklimmen hohe Berge und ziehen sich in die Wildnis rund um Seattle zurück, wo sie auf ihren tagelangen Touren oft auf keinen Menschen stoßen. Doch während Neil nach dem Schulabschluss das College besucht und die Laufbahn eines Englischlehrers anstrebt, plant John den Rückzug aus der Gesellschaft, die er hasst. Er bricht sein Studium ab und lässt sich als Einsiedler in einem Wohnwagen an einem Fluss nieder. Später richtet er sich in einer Kalksteinhöhle ein.
In jenen sieben Jahren vom ersten Tag in der Wildnis bis zu Johns tragischem Ende versorgt Neil seinen Freund mit Lebensmitteln, Literatur und mit den notwendigen Dingen, die man für das Überleben braucht. Die Zeit vergeht: Neil heiratet seine langjährige Freundin Jamie, die er während seiner Europa-Tour in den Dolomiten kennengelernt hatte, und wird Vater. John hingegen hat den Kontakt zu seinen Eltern komplett abgebrochen. Sein äußeres Erscheinungsbild wird Ausdruck seines Leidens. Doch der Bitte Neils, wieder zurück in die Zivilisation zu kommen, schlägt John aus, der sich intensiv mit den Schriften über die Gnosis beschäftigt. Einige Jahre nach dem Tod Johns wird Neil dessen einziger Erbe, dem ein beträchtliches Vermögen zukommt. Für die Presse erneut eine Gelegenheit, um über den merkwürdigen Eremiten zu berichten.
In dieser Zeit blickt Neil zurück auf die gemeinsamen Jahre mit John, die 1974 ihren Anfang nahmen. Vor- und Rückblenden bestimmen deshalb diesen Roman, der einen Zeitrahmen von mehr als 25 Jahren umfasst. Neils frühe Ambitionen, einmal Schriftsteller zu werden, finden mit diesem Rückblick auf seinen Freund und sein besonderes Leben ein Thema. Er will ein Buch schreiben, doch nicht nur um über die gemeinsamen Erlebnisse zu berichten. Neil plagen Selbstvorwürfe. Er glaubt, John hätte womöglich gerettet werden können, wenn dessen Eltern von seinem erbärmlichen Zustand in den letzten Monaten seines Lebens erfahren hätten. In jenen Wochen war Neil durch eine Knöchel-Verletzung gehandicapt und konnte John nicht besuchen.
„Persönlich fühle ich mich zu jungen Menschen hingezogen, die eine metaphysische Klage umtreibt, die sich an der Sinnlosigkeit des Daseins stoßen und unbedingt etwas dagegen unternehmen möchten. Ist in dieser Obsession etwas falsch?“
Aus der Ich-Perspektive geschrieben, kommt der Leser den beiden jungen Männern und ihrer Begeisterung für die Natur und ihren beiden völlig unterschiedlichen Lebensentwürfen sehr nah. Neil erschafft nicht nur ein Psychogramm seiner eigenen Person. Ihm gelingt es zudem, die spezielle Vorstellungswelt seine Freundes zu vermitteln, auch die Gründe für seine Entscheidung, der Gesellschaft abzuschwören, aufzuzeigen. Nach der Erbschaft mehr als 20 Jahren nach Johns Tod erfährt Neil von der Kindheit seines Freundes. Dessen Vater beichtet von der emotionalen Kälte, die in der Familie geherrscht hat.
Neben den faszinierenden Naturbeschreibungen erscheint der Roman aus einem weiteren Grund reich und vielschichtig. Neil und John sind begeisterte Leser. Immer wieder finden sich deshalb Verweise auf ihre Lektüre – von Gedichten bis hin zu Ratgebern. Auch Autoren, die sich eingehend mit dem Thema der Mensch und die Natur sowie dem Thema Einsamkeit in ihren Werken beschäftigt haben, werden genannt, wie Jack Kerouac, Robert Frost oder Henry David Thoreau. Beide Freunde werden von der Literatur begleitet und beeinflusst.
Schon inmitten des Buches nimmt der Leser eine sehr melancholische Stimmung wahr. Würde dieser Roman erklingen können, würde er wohl tief und sacht brummen wie ein Kontrabass oder traurig ertönen wie eine Oboe. Ergreifend ist dabei nicht nur die enge Freundschaft und berührend ihre Zuwendung zum Zauber der Natur. Es ist vor allem der tragische Tod Johns, der sich eingräbt und dazu beiträgt, dass dieser wundervolle Roman sich einprägt.
Der Roman „Der Andere“ von David Guterson erschien im dtv-Verlag bereits als Taschenbuch, in der Übersetzung aus dem Amerikanischen von Georg Deggerich, 360 Seiten, 9,90 Euro
Foto: Rainer Sturm/pixelio.de
der Roman ist bisher völlig an mir vorübergegangen. Schön, dass und wie du ihn hier vorstellst!
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Vielen Dank für Deinen Kommentar, liebe Elvira. Ich hatte vor einiger Zeit einen Beitrag zu diesem Roman gehört, den Titel im Hinterkopf behalten und nun bin ich im Buchladen auf das Taschenbuch gestoßen. Viele Grüße
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Liebe Constanze,
Deine einfühlsame Besprechung macht richtig Lust auf dieses Buch! Von so einem Rückzug träumt doch jeder gelegentlich. Und du hast so interessante Aspekte herausgepickt wie die Naturbeschreibungen und die Literaturverweise. Solche Bücher liebe ich! Mir gefielen auch schon der von dir erwähnte Film „Into the Wild“ und Gutersons erstes Buch. Also muss ich das lesen!
Viele Grüße,
Petra
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Vielen Dank, liebe Petra, für Deinen Kommentar. Ja, das Buch hat mir wunderbar gefallen. Ich zähle auch zu jenen Menschen, die eher die Natur brauchen als ein Leben in der Stadt. Aber ich glaube für einen kompletten Rückzug aus der modernen Gesellschaft braucht es sehr viel Wissen, wie man in der Wildnis überleben und leben kann. Ohne diese Kenntnisse geht man sicherlich sehr blauäugig an solch ein Wagnis. Viele Grüße
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