„Niemand weiß, was zwei Menschen miteinander verbindet, auch sie selbst wissen es oft nicht und kommen erst dahinter, wenn sie sich verlieren.“
Tragische Ereignisse kommen nicht immer auf leisen Sohlen daher. Manche kündigen sich an, erste Vorboten des Kommenden werden sichtbar. Nur erkennen möchte sie oftmals keiner. Der selbst gewählte Tod von Oliviers Mutter war konsequenter Abschluss ihrer Depression und Weltabgewandtheit. Nur wenige Tage zuvor war sie nach einer mehrmonatigen Behandlung aus der Psychiatrie entlassen worden. Der Ausflug nach Étretat in der französischen Normandie sollte ein Neubeginn für die Familie sein. Letztlich war es der Auftakt einer Reihe schmerzlicher Ereignisse, die das Leben von Olivier und seinem älteren Bruder Antoine für immer verändern sollen.
„Klippen“ nennt der Franzose Olivier Adam seinen Roman. Auch in der französischen Originalausgabe mit „Falaises“ überschrieben wird auf die markante Steilküste im Norden des Landes verwiesen, die vor allem in der Malerei der Romantik zu einem oft verwendeten Motiv wurde. Sie ist indes nicht nur ein symbolträchtiger Ort des tragischen Ereignisses. Für Olivier ist sie auch ein Erinnerungsort, zu dem er 20 Jahre später als erwachsener Mann und Schriftsteller mit seiner Frau Claire und der gemeinsamen Tochter Cloe reist. Während diese im Hotelzimmer schlafen, blickt er zurück und beginnt zu erzählen. Seine Lebensgeschichte ist vor allem eine der Auflösung in ihren verschiedensten Formen. Nach dem Suizid seiner geliebten Mutter schwinden die familiären Bande: Der Vater in seiner Trauer schikaniert beide Söhne. Sie suchen Zuflucht und ein Zuhause in einer zusammengewürfelten Clique, in der Drogen und Sex für Ablenkung und Trost sorgen. Doch es ist nur eine trügerische Hoffnung. Zwei Schicksale sorgen für Bestürzung innerhalb der Gemeinschaft. Plötzlich ist auch Olivier allein, als Antoine entscheidet, Bruder und Vater überstürzt in der Nacht zu verlassen. Schon allein diese Geschehnisse sollten für ein Leben reichen. Doch Olivier, der schließlich ebenfalls das Elternhaus in der Provinz verlässt, wird weitere Verluste verkraften müssen. Seine Gefühle und den Schmerz betäubt er, mittlerweile in Paris gestrandet, mit Alkohol und Sex mit unbekannten Frauen. Er steht am Abgrund, als er Claire trifft, die sein Leben für immer verändern wird.
Adam weiß die Schockmomente und tragischen Ereignissen aneinanderzureihen, ohne dass es unglaubwürdig wirkt. Schonungslos, offen und ohne Selbstmitleid berichtet sein Held. Wie bei einem Gedankenstrom durchmischen sich dabei die Zeitebenen. Und er fragt sich oft, wie es geschehen konnte, dass eine einst fröhliche Mutter sowie ein liebevoller Vater sich so verwandeln können, dass die Familie zerstört wird. Seine Erinnerungen an eine glückliche Zeit in der frühesten Kindheit erscheinen jedoch dabei recht verschwommen. Atmosphärisch dicht und detailreich werden die Episoden in der Vergangenheit sowie die Nacht in Étretat geschildert. Als wesentliches stilistisches Merkmal sticht dabei die Aneinanderreihung von Wörtern und Passagen heraus, so dass eine ganz eigene Melodie der Poesie in diesem wunderbaren Roman entsteht. Dazwischen gibt es viel Raum für die Darstellung des Innenlebens, vor allem des Schmerzes, der nicht wirklich gelindert, sondern vielmehr nur überdeckt werden kann. Dafür hat der Ich-Erzähler zu viele Tragödien und Verluste miterlebt. Wenn zu Beginn die Auflösung erwähnt wurde, dann ist nicht nur jene der Mutter gemeint. Auch die Familie zerfällt. Der Kontakt sowohl zum Bruder, der mit der Handelsmarine auf den Weltmeeren umherreist, als auch zum Vater bricht ab. Vor dem war er geflohen, während er weiterhin von seiner Mutter begleitet wird – in seinen Träumen, Gedanken, ja sogar in Halluzinationen. Und zwei Frauen, zu denen Olivier ein enges Verhältnis aufgebaut hatte, verschwinden auf unterschiedliche Weise aus seinem Leben.
„Manchmal sage ich mir, dass die Vergangenheit nur Einbildung ist, dass man einen Schlussstrich darunterziehen, auf Ruinen bauen und ohne Fundament leben kann. Manchmal denke ich aber auch das Gegenteil.“
„Klippen“ ist dabei nicht der erste literarische Stoff, mit dem sich Adam tragischen Ereignissen in einer Familie widmet. Schon in seinem Erstling „Keine Sorge mir geht’s gut“, der mit Unterstützung des Franzosen als Drehbuchautor auch erfolgreich verfilmt worden ist, lässt er den Leser/Zuschauer teilhaben an einem besonderen Schicksal. Für seinen Erzählband „Am Ende des Winters“ erhielt er den Prix Goncourt de la Nouvelle. Zuletzt erschien sein Roman „An den Rändern der Welt“ (Klett-Cotta-Verlag). Eine Besprechung findet sich auf dem Blog „Kaffeehaussitzer“ von Uwe Kalkowski.
Die Lektüre des recht schmalen Bandes ist eine ganz besondere Erfahrung. Die Lebensgeschichte des Mannes ist nicht nur sehr berührend. Zwischen dieser dunklen Melancholie angesichts des vielfältigen Schmerzes schimmert auch das Bewusstsein, dass nach aller Tragik das Glück erscheinen kann. Seine eigene Familie, die Frau, die stets an seiner Seite gestanden hat, und das Wunder der gemeinsamen Tochter lässt Olivier zurückkehren in ein helles Leben, ohne das die gesammelten Wunden vergessen werden. Beide Grundgefühle greifen ineinander, so dass erkennbar wird, wie schmal der Grat zwischen beiden ist. Vielleicht entsteht mit diesem Bewusstsein gerade das Glücksgefühl über das eigene Glück.
Der Roman „Klippen“ von Olivier Adam, 2005 im Original veröffentlicht, erschien im SchirmerGraf Verlag, folgend als Taschenbuch im Piper Verlag, in der Übersetzung aus dem Französischen von Carina von Enzenberg. Beide Ausgaben sind leider nicht mehr im Programm des jeweiligen Verlages und nur antiquarisch beziehungsweise online erhältlich.
2 Kommentare zu „Auflösung – Olivier Adam „Klippen““