Zwischen Europa und Fernost – Erika Fatland „Sowjetistan“

„Wenn sie wieder in ihr Land kommen, können Sie schreiben, dass sie an einem weit entfernten Ort, in einem fernen Tal, in einer abseits gelegenen Ecke der Welt, einem alten Mann mit einer tragischen Lebensgeschichte begegnet sind.“

Um mir die fünf Länder zu merken, baue ich mir eine Eselsbrücke. Zweimal „T“, zweimal „K“ und einem „U“. Obwohl in Geografie eine sehr interessierte und wissbegierige Schülerin, muss ich bei Fragen rund um Zentralasien und die fünf Staaten Turkmenistan, Kasachstan, Tadschikistan, Kirgistan und Usbekistan schlichtweg passen. Ich weiß weder wie ihre Hauptstädte heißen, noch an welche Länder sie grenzen. Erika Fatland neuestes Buch mit dem Titel „Sowjetistan“ bringt nicht nur Licht ins Dunkel. Die norwegische Autorin lädt auf eine wundersame Reise ein, ohne dass man ein Navi benötigt und das heimische Sofa verlassen muss.

Fatland ist hierzulande bekannt geworden mit ihrem Band „Die Tage danach“, mit dem sie die Auswirkungen des unfassbaren Massakers auf der kleinen norwegischen Insel Utøya am 22. Juli 2011 auf ihr Heimatland beschreibt. Für ihr aktuelles Werk bereiste die 33-jährige Sozial-Anthropologin in zwei Etappen die fünf post-sowjetischen Länder, die mit dem Zerfall der Sowjetunion ihre Unabhängigkeit erlangt haben und seitdem verschiedene Wege gegangen sind – politisch wie wirtschaftlich und gesellschaftlich. Fatland, die unter anderem mit Flugzeug, Helikopter und Auto reiste, weiß meist einen Führer an ihrer Seite, der sie zu den jeweiligen Zielen geleitet, ihr über Geschichte und Gegenwart berichtet; ohne indes Einblicke in seine eigene persönliche Meinung zu geben. Denn außer Kirgistan wird der überwiegende Teil der Länder autokratisch, im Fall von Usbekistan, das die Autorin sogar mit Nord-Korea vergleicht, diktatorisch geführt. Porträts der Herrscher an unzähligen Orten sowie übermannsgroße Statuen zeugen ebenso davon wie eingeschränkte Menschenrechte, Korruption sowie eine fehlende Presse- und Meinungsfreiheit. Ausländische Touristen sind nicht gern gesehen. Ihr Aufenthalt unterliegt scharfen Einschränkungen.

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In „Sowjetistan“ schildert die Autorin ihre Erlebnisse mit Land und Leuten und vermittelt viel Wissenswertes zu den einzelnen Ländern. Zeitlich reist Fatland dafür sehr weit zurück, sogar bis weit in die Jahrhunderte vor Christus, um die wechselvolle und auch leidvolle Geschichte der Region zwischen Hochkultur in der bedeutungsvollen Ära der Seidenstraße bis hin zu jenen Jahrzehnten als Sowjet-Republiken zu vermitteln.  Neben dieser Historie vereint ein weiteres Merkmal die Länder: Sie sind zur Heimat vieler verschiedener Völker geworden, die nicht immer friedlich miteinander umgegangen sind. Und noch immer bestehen Differenzen und Konflikte. Dabei hatten auch die verheerenden Zwangsumsiedlungen und Deportationen ganzer Völker während der Stalin-Zeit zu diesem Völker-Gemisch beigetragen. Die Norwegerin trifft sowohl auf Einheimische und Vertreter alter Nomaden-Völker als auch auf Menschen unterschiedlichster Herkunft: Deutsche, Russen, Polen.

„Die Menschen in Zentralasien haben nie isoliert gelebt, sie mussten sich über die Jahrtausende hinweg zu verschiedenen Armeen verhalten, die von Osten und Westen, Norden und Süden ihren Lebensraum besetzten. Aus allen Himmelsrichtungen kamen Volksgruppen; einige ließen sich für kurze oder längere Zeit nieder, andere wurden in der Steppe heimisch. Zentralasien war immer gekennzeichnet durch seine zentrale Lage im Herzen Asiens, zwischen Europa und Fernost, mitten auf der Handelsroute zwischen Osten und Westen.“

Die interessantesten Anekdoten sind jene, in denen das Skurrile sowie das Irrationale zum Vorschein kommen: Riesenpaläste aus schneeweißem Marmor in einem armen Land wie Turkmenistan, die höchste Fahnenstange der Welt in Tadschikistan. Mit dem Band, der zudem Karten, geografische Fakten sowie Fotografien der Norwegerin beinhaltet, bereist der Leser prachtvolle Städte, eindrucksvolle Landschaften sowie Dörfer, in denen Errungenschaften der modernen Zivilisation wie  Strom, Festnetz und Internet schlichtweg fehlen. Fatland beschreibt die ökologische Katastrophe am Aralsee genauso wie die Auswirkungen der russischen Atomtests in Kasachstan. Auch das eindrucksvolle Pamir-Gebirge besuchte sie. Neben historischen Fakten und Ereignissen versammelt der Band eine Vielzahl an Legenden und Mythen, ohne die Schicksale und Denkweisen der Menschen zu vergessen, denn sie sind es, die voll und ganz im Mittelpunkt stehen: Menschen wie die Wunderheilerin Bifatima, Frauen, die mittels Brautraub zur Ehe gezwungen werden, der stolze Adler-Mann Talarbek, der schüchterne Bräutigam Mirzo, zu dessen Hochzeit die Autorin eingeladen wurde und der seine zukünftige Frau Nisor auf dem Pferd nach Hause bringt.

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Talarbek, „The Eagle Man“ mit seinem Königsadler Tumara
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Samarkand

Fatland, die mit dem Schriftsteller-Kollegen Erik Fosnes Hansen („Choral am Ende der Reise“) verheiratet ist und acht Sprachen beherrscht, beweist viel Menschenkenntnis und Einfühlungsvermögen für den oftmals harten und entbehrungsreichen Alltag der Männer und Frauen, aber auch Humor. Ihr Werk bereitet deshalb sowohl eine ernste und sehr lehrreiche Lektüre als auch eine überaus amüsante und unterhaltsame Lehrstunde. Eine Lehrstunde, die nicht nur das Interesse für jene zentralasiatischen Länder, Völker und ihre Lebenswirklichkeiten weckt, sondern allgemein ein offeneres Verständnis erzeugt für all jene Regionen, die nicht im Mittelpunkt der Welt-Aufmerksamkeit stehen und trotzdem einen Schatz an Geschichte, Kultur und Natur beherbergen, den es lohnt zu entdecken.


Erika Fatland: „Sowjetistan“, erschienen im Suhrkamp Verlag, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg; 511 Seiten, 16,95 Euro

Fotos: Erika Fatland/Suhrkamp (2), pixabay

8 Kommentare zu „Zwischen Europa und Fernost – Erika Fatland „Sowjetistan“

  1. Liebe Constanze, um dieses Buch bin ich auch schon herumgeschlichen, da ich mich zur Zeit lesend im Osten bewege. Ich finde diese Frau ganz schön mutig, da herum zu reisen … interessanterweise reist die Autorin Valerie Fritsch ja auch gerade mit dem Auto nach Kasachstan. Vielleicht kommt ja von dieser Seite auch noch ein Reisebericht …
    Viele Grüße!

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    1. So eine Mammut-Reise gelingt, glaube ich, nur mit einer sehr guten Vorbereitung. Fatland hat schon Ossetien bereist und darüber geschrieben. Ich habe die Lektüre sehr genossen, zumal sie eben Lust macht, andere, weniger bekannte Länder zu bereisen, offen für die große weite Welt zu sein. Viele Grüße zurück nach Berlin

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  2. Scheint eine wichtige Pflichtlektüre für mich zu sein. Mehr Kür als Pflicht. Zwei von den zwei Ts zwei Ks und einmal U kann ich auch. Ein wenig. Und die anderen aus Erzählungen. Bin schon gespannt auf den Blick der Autorin. Danke für diesen Tipp!

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