Vom Suchen und Finden – Reinhard Stöckel „Der Mongole“

„Wo Vergehen ist, ist auch Beginn.“

Irgendwann in naher Zukunft. Drohnen bringen die Post und liefern die bestellten Einkäufe aus dem Supermarkt bequem nach Hause. Künstliche Intelligenz hat Einzug gehalten in Verwaltungen. Die Wölfe stehen nicht mehr unter Schutz. Der Wissenschaftler Radik kommt in die Lausitz, um im Auftrag seines Vorgesetzten die Raubtiere zu beobachten. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit des Biologen auf ein ganz anderes Geschöpf: auf den stark gefährdeten Sonnentau, eine fleischfressende Pflanze. Doch Radik ahnt nicht, dass seine Forschungsreise auch eine Reise in die Geschichte seiner Familie bedeutet. 

Reinhard Stöckel entwirft in seinem neuen Roman zu Beginn ein recht düsteres Szenario. Kein Zug fährt mehr zu Radiks Ziel. Der Bahnhof wirkt wie ausgestorben. Ein  selbstfahrender Bus bringt den jungen Mann schließlich nach Waldenow, wo er auf dem Hof einer älteren Frau sein Quartier aufschlagen kann, vermittelt mit Hilfe seiner Mutter. Was er nicht weiß, die Frau ist seine Großmutter Betty. Es wird nicht das einzige Geheimnis sein, das er in den kommenden Tagen erfahren wird, gar lüftet – dank seiner Entdeckungen, seiner allmählich aufkommenden Kindheitserinnerungen, die verschüttet zu sein scheinen. Bei seiner Tour durch die herbe Landschaft aus Wald, Moor und Resten eines Tagebaus stößt er auf eine Hütte, in die kyrillische Buchstaben eingeritzt worden sind, in der an einer Wand ein Foto hängt, das eine Frau zeigt, die seiner Mutter sehr ähnlich ist. Später wird er auch den Bewohner der Hütte kennenlernen: Sayan. Ein desertierter Soldat der russischen Streitkräfte, aus der Republik Tuwa, im Süden Sibiriens gelegen, stammend. Den Schikanen in der Armee entflohen, lebt er zurückgezogen in der Hütte und einem verlassenen Bunker. Immer mit der Angst, entdeckt zu werden. Und das seit Jahren.

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Unterschiedliche Welten prallen in Stöckels Roman aufeinander: Da ist die moderne Welt der nahegelegenen Stadt, dort die nahezu von Menschen verlassene Gegend rund um Waldenow, die ein Wolf durchstreift, der wie die seltene Pflanze des Sonnentaus im Roman einen symbolischen Wert erhält. Beide Welten werden getrennt durch einen tiefen Spalt in der Landschaft, verursacht durch den Tagebau, vor dem nahezu einst der Hof der Familie hätte weichen sollen. In seinen Gedanken bringt der Held diese Abgeschiedenheit mit dem Klassiker „Walden“ des Amerikaners Henry David Thoreau in Verbindung. „Waldenwo“ heißt es da als Wortspiel. In Sayans Erinnerungen an seine Kindheit und seinen Großvater taucht hingegen die entfernte fremde Welt und das traditionelle naturverbundene Leben des Volkes der Tuwiner auf. Es ist diese erstaunliche Dichte an Themen, Kontrasten, Lebensgeschichten und Zeiten, die dem schmalen Roman einen besonderen Reiz verleiht, dem man deshalb auch durchaus noch etwas mehr Umfang gewünscht hätte.

„Der Rest seines Schweifs verlor sich im Dunkeln, im Ungefähren blieben die Geschehnisse in den großväterlichen Erzählungen, nur eine Ahnung, wenn es eine Nachahnung gibt, zurück ins Verklungene.“

Stöckel, 1956 in Allstedt (Sachsen-Anhalt) geboren, gelernter Bibliothekar und einst Student am Leipziger Literaturinstitut, debütierte mit „Unten am Fluss“ (Dingsda-Verlag). Es folgte der erfolgreiche und viel gelobte Roman „Der Lavagänger“, der 2009 im Aufbau-Verlag erschien, zuletzt das Kinderbuch „Ein wildes Schwein mit Namen Wilfried“ (Selbstverlag, Edition Vogelweide). Heute lebt der Autor in der Niederlausitz nahe Cottbus. Seine Vorliebe zur Lyrik zeigt sich denn auch in der präzisen wie poetischen Sprache, die eindrucksvoll die Landschaft einfängt, teils bizarre Szenen sowie den jeweiligen Charakter der Protagonisten zeichnet; vor allem den Eigenbrötler und Einzelgänger Radik, der trotz der Digitalisierung an handschriftliche Notizen festhält, sein Notizbuch vor Verlust und Nässe schützt und der ein sehr genauer Beobachter seiner Umgebung ist.

„Der Mongole“ ist vor allem ein eindrückliches Buch über die Liebe, die verloren gehen kann und durch Verluste geliebter Menschen Wunden verursacht, über die Liebe, die manchmal auch von anderen Personen unerwünscht ist und verhindert wird. Es scheint ein Schicksal dieser zerrissenen Familie zu sein, vom Verlorengegangenen gezeichnet zu sein. Großvater Kurt hat seine Frau Betty an einen anderen Mann verloren, Sayan seine große Liebe, die nicht gewollt war, Radik vermisst seine Freundin, die nur Balletttänzerin genannt wird. Seine Forschungsreise in die Lausitz krempelt Radiks Bild der eigenen Familiengeschichte komplett um und bereichert diese, auch wenn er seinen unerwarteten Gewinn durch ein tragisches Ereignis wieder verliert. „Der Mongole“ ist ein wundersames Buch, das im Gedächtnis bleibt.

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „Hundstrüffel“.


Reinhard Stöckel: „Der Mongole“, erschienen im Müry Salzmann Verlag, 224 Seiten, 19 Euro

Foto: pixabay

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