„Hamutal kommt sich nichtig vor, alle sind sie nichtig, nicht mehr als Insekten in einer Nussschale im Meer (…).“
Nach seinem eindrucksvollen Roman „Krieg und Terpentin“ über den Ersten Weltkrieg und die Erlebnisse seines Großvaters holt Stefan Hertmans erneut die Vergangenheit in die Gegenwart. In seinem neuen Buch „Die Fremde“ geht er in der Zeit indes noch weiter zurück, um mehr als ein Jahrtausend in das Mittelalter. Anlass und Inspiration bieten ihm Monieux, ein Bergdorf in der Provence, in dem er seit Jahren lebt, sowie ein Dokument aus dem 11. Jahrhundert, das vor mehr als 120 Jahren in einer Synagoge in Kairo entdeckt wurde und heute in der Cairo Genizah Collection der Universität Cambridge zu finden ist.
Unerwünschte Liebe
Das Dokument ist ein Empfehlungsschreiben eines Rabbis, das eine junge Frau auf ihrer Reise in der Fremde bei sich trug. Von ihr wird in jenem mittelalterlichen Pergament berichtet, von ihr erzählt Hertmans in seinem Roman. Vidgis ist eine gebildete junge Christin normannischer Herkunft aus gutem Hause. Im Alter von 15 Jahren trifft sie in ihrer Heimatstadt Rouen auf David, Sohn des bekannten Rabbis Richard Todros aus Narbonne. Beide verlieben sich in einander. Doch ihre Beziehung ist unerwünscht und wird von Vigdis‘ Familie scharf verurteilt. Beide fliehen, nachdem Vigdis in ein Kloster gebracht wurde. Die junge Frau lässt ihre Eltern, ihren sicheren gesellschaftlichen Stand und ihren Gott zurück. Man schreibt das Jahr 1088. Es ist eine von Judenhass und von einer unerbittlichen Gewalt im Namen der Kirche geprägte Zeit. Wenige Jahre später finden grausame Pogrome im Land statt. Als Papst Urban II. zum ersten Kreuzzug gen Jerusalem gegen die Muslime aufruft, ein riesiger Zug aus gewaltbereiten Rittern und niederem Fußvolk sich in Richtung Süden bewegt, werden auch die Juden nicht verschont.
Vigdis glaubt sich mit David in dem kleinen Bergdorf im Süden Frankreichs sicher, in das sie nach einer beschwerlichen Reise, immer mit der Gefahr gefangengenommen zu werden, geflohen waren und wo ein Jahrtausend später schließlich der belgische Autor lebt. Sie ist mittlerweile in der jüdischen Gemeinschaft aufgenommen worden, wird Sarah beziehungsweise von ihrem Mann liebevoll Hamutal genannt und beherrscht Hebräisch. Wenige Jahre vergehen. Drei Kinder bringt Hamutal in dieser Zeit zur Welt. Ein Zug aus Kreuzrittern erreicht schließlich den idyllisch gelegenen Ort, es kommt zu einem blutigen Gemetzel, bei dem auch David getötet wird, die beiden ältesten Kindern vermutlich verschleppt werden. Die junge Frau weiß, sie kann nicht zurück in ihre alte Heimat. Sie macht sich mit dem jüngsten Kind auf die Suche nach den ältesten beiden – bis nach Ägypten über Marseille, Genua und Palermo.
„Die wenigen hundert Meter, die ich durch dieses uralte Viertel gehe, werden sich allerdings in meine Seele brennen als eine kurze, aber um so intensivere Reise durch die Zeit, auf der mich alles, was ich rieche, spüre und erfahre, in die Geschichte versetzt, der ich nun schon so lange auf den Fersen bin.“
Hertmans erzählt sowohl vom schrecklichen Schicksal des ungleichen Paares als auch von seinen eigenen Reisen, die ihn zu den jeweiligen Schauplätzen im Leben von Hamutal und David führen. Ein besonderer Stil bei der Auseinandersetzung eines realen Stoffes, die ich unter anderem mit der Lektüre der Werke von Geert Mak („In Europa“) und Mathijs Deen („Alte Wege“) bereits kennen- und schätzengelernt habe. Hertmans besucht Städte wie Rouen, Narbonne und Kairo, besichtigt historische Denkmäler wie Kirchen, Kapellen und Klöster. Zuletzt nimmt er jenes eingangs erwähnte Dokument in Augenschein, das unter der Bezeichnung T-S 16.100 in der Cairo Genizah Collection der Universität Cambridge aufbewahrt wird und von dem Gelehrten Solomon Schechter am Ende des 19. Jahrhunderts mit weiteren Schriften, Papyri wie Pergamente, in der Ben-Esra-Synagoge in Kairo, das damals den Namen Fustat trug, entdeckt und gesichtet wurde.
Auf den Spuren der Geschichte
Bildreich und atmosphärisch beschreibt Hertmans jene Orte, vor allem Monieux, das dem Belgier mittlerweile zu einer zweiten Heimat geworden und vertraut ist. Einfühlsam schildert der Autor indes das Leben seiner beiden Helden. Allen voran Hamutal, die unvergleichliche Strapazen und schmerzliche Verluste überstehen muss. Sie wird überfallen, verletzt, vergewaltigt. In „Die Fremde“ lässt der Autor eindrucksvoll Geschichte und Gegenwart verschmelzen. Er gibt spannende Einblicke in den damaligen Lebensalltag und in die jüdische Religion und schildert die einstige Landschaft, in denen Wölfe und Bären herumstreiften. Hertmans beschreibt, wie die historischen Stätten auf ihn wirken, was heute, mehr als 1.000 Jahre später, noch von ihnen verblieben ist. Die Jeschiwa, jene jüdische Schule vor der sich Vigdis und David einst trafen, wurde 1976 bei Ausgrabungen in Rouen entdeckt. Sie war bei den Pogromen zu Lebzeiten des Paares zerstört worden. Die Stiftskirche Notre-Dame-du-Port in der Stadt Clermont-Ferrand, die Hamutal besucht und in der Papst Urban II. den Ersten Kreuzzug ausruft, ist heute ein Unesco-Weltkulturerbe.
Mit „Die Fremde“ zeigt Hertmans sowohl die Folgen von Intoleranz und Hass als auch Beispiele von Humanität und Hilfsbereitschaft auf. Beide gegensätzlichen Seiten des menschlichen Handelns haben die Zeit überlebt und sind auch in der Gegenwart zu beobachten, deshalb ist dieser eindrückliche Roman aktueller den je.
Stefan Hertmans: „Die Fremde“ erschienen als Taschenbuch-Ausgabe im Diogenes Verlag, in der Übersetzung aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm, 384 Seiten, 13 Euro; zuvor im Verlag Hanser Berlin, 304 Seiten, 24 Euro
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Ein Kommentar zu „Stefan Hertmans – „Die Fremde““