„Jeder schreibt seine eigene Geschichte.“
Meist erzählt die Geschichte von den Helden, den großen Entdeckern, deren Namen jeder kennt und die ihren festen Platz in der Ruhmeshalle haben. In seinem aktuellen Roman „Weiße Finsternis“ stellt der Frankfurter Schriftsteller Florian Wacker indes die Männer aus der zweiten Reihe ins Rampenlicht und berichtet von einer wahren Begebenheit. Im Mittelpunkt stehen Peter Tessem und Paul Knutsen, zwei Männer aus dem nordnorwegischen Tromsø, die 1918 den berühmten Polarforscher Roald Amundsen (1872 – 1928) als Matrosen auf dessen gefahrvolle Fahrt mit der „Maud“ durch die Nordostpassage nördlich von Sibirien begleiten. Für Tessem und Knutsen, die seit der Kindheit befreundet sind, sollte es eine Reise ohne Wiederkehr werden.
Aufbruch von der „Maud“
Die Reise des großen Amundsen, der von Christiana (heute Oslo) im Juli 1918 gestartet war, steht von Beginn an unter keinem guten Stern. Bereits wenige Monate später zwingt Treibeis am Kap Tscheljuskin, dem nördlichsten Festland-Zipfel der Erde, die Besatzung zu einer ersten Überwinterung. Das norwegische Forschungsschiff steckt im Eis fest. Da Peter Tessem unter schrecklichen Migräne-Anfällen leidet, verlässt er im Herbst 1919 mit Paul Knutsen die Mannschaft. Sie sollen sich zu Fuß nach Westen nach Dikson, nördlichste Siedlung und Hafenstadt im Mündungsgebiet des Jenissei in die Karasee, durchschlagen, im Gepäck haben sie wichtige Post der Besatzung. Beide Männer sollen nie mehr auftauchen, ihr Schicksal ist bis heute ungewiss. Eine Such- und Rettungsexpedition zwei Jahre später wird erfolgslos bleiben und nur auf spärliche Überreste stoßen.
Lebendig und eindrücklich aus mehreren verschiedenen Perspektiven und mittels Rückblenden erzählt Wacker, der für dieses Buch vorab mit dem Robert-Gernhardt- Preis geehrt wurde und bereits in seinem Roman „Stromland“ eine Suchaktion ins Zentrum stellt, die Geschichte der beiden Männer, die nicht unterschiedlicher sein können. Peter gilt als verhalten und schüchtern, Paul als mutig und draufgängerisch. Während der erste mit der Jugendliebe Liv eine Familie gründet, als bodenständiger Handwerker sein Geld verdient und die Werkstatt seines Vaters übernimmt, fährt der zweite zur See, später auch ins Eis. Wie Peters Herz schlägt auch das von Paul für die junge Frau, die sich selbstbewusst und forsch gibt, nicht weniger Entdeckungsdrang an den Tag legt und von den Reisen des Alexander von Humboldt schwärmt; fast zu früh geboren zu sein scheint. Man spürt, dass der Autor mit diesen drei Protagonisten besonders verbunden ist.
„Peter hält an und blickt sich um. Nie im Leben hat er eine tiefere Stille erlebt, hier, so denkt er, hier muss das Ende aller Dinge sein, ein Zwischenreich, weder lebendig noch tot.“
Neben dieser berührenden Dreiecksbeziehung – denn auch Liv fühlt sich zu beiden Männern hingezogen – wird über den verzweifelten Überlebenskampf der Freunde in einer unwirtlichen Gegend, in der jeder noch so kleine Fehler mit dem Tod bestraft wird, sowie über die zwei Jahre später beginnende Rettungsaktion erzählt. Zwei Norweger, ein Russe sowie ein Mitglied des Nomadenvolkes der Nganasanen, brechen zu einer nicht minder gefährlichen Tour auf, um die beiden Verschollenen zu finden.

Wacker bringt neben diesen Beziehungen zwischen den Protagonisten vor allem die einzigartige Welt hoch im Norden mit eindrücklichen Bildern und Stimmungen dem Leser sehr nahe, wie er das Eis, die Kälte und die menschenleere Ödnis mit ihrer Stille beschreibt, hallt lange nach. Sowohl jene Passagen, in denen Tessem und Knutsen allein durch diese karge und lebensfeindliche Gegend ziehen, sowie jene, in der Liv als Zurückgelassene und Trauernde zu Wort kommt, stechen deshalb vor allem sprachlich heraus. Die Episoden über die Rettungsaktion, mit denen der Roman auch beginnt, wirken indes im Vergleich dazu manches Mal etwas nüchtern. Dabei ist es gerade diese Vielzahl an Perspektiven und Erzählssträngen, die während der Lektüre einen Sog entwickeln und Spannung erzeugen, trotz eines komplexen Aufbaus findet man sich schnell in die Handlung hinein, die indes mehr erzählt als nur die Historie zweier Männer aus der nordnorwegischen Stadt Tromsø, die als Tor zur Arktis bekannt ist. „Weiße Finsternis“ ist darüber hinaus ein facettenreiches wie nachdenklich stimmendes Buch über falsches Heroentum, das viele Opfer fordert, und setzt sich mit der immer wiederkehrenden Frage nach dem eigenen Lebensweg auseinander, um zugleich über ein wenig bekanntes Kapitel aus der Geschichte der Arktis-Forschung zu berichten. Heute erinnert in Dikson ein Stein-Denkmal an die Tragödie, das allerdings nur an Peter Tessem verweist. Den Spekulationen über den möglichen Verlauf gibt der Roman neue Nahrung.
Keine Rückkehr auch für Amundsen
Die Besatzung der „Maud“ wird einen zweiten Winter im Eis verbringen, ehe sie schließlich erst im Sommer 1921 Seattle und damit die Zivilisation erreicht. Doch Amundsen, der zehn Jahre zuvor den Wettlauf zum Südpol gegen seinen Rivalen Robert Falcon Scott gewann, soll dasselbe Schicksal wie seine beiden Matrosen ereilen. Von einer Rettungsexpedition an Bord eines Flugszeugs, um den verschollenen Italiener Umberto Nobile in der Arktis zu finden, kehrt er im Juli 1928 nicht mehr zurück.
Florian Wacker: „Weiße Finsternis“, erschienen im Berlin Verlag, 304 Seiten, 20 Euro