Malin C. M. Rønning – „Skabelon“

„Nachts gehört der Wald nur sich selbst.“ 

Der Wald bedeutet für Urd eine ganze Welt. Er ist das Zuhause ihrer Familie, in der das Leben allerdings alles andere als sorgenlos, idyllisch und heil zu sein scheint. Mit ihren sieben Geschwistern ist sie meist auf sich allein gestellt. Liebe und Zuneigung erfahren sie von ihren Eltern kaum. So zieht sich das Mädchen zurück in die reiche Natur, in der sie sich wohl, sicher und aufgehoben fühlt. Mit ihrem teils düsteren Debüt-Roman „Skabelon“ überzeugte die Norwegerin Malin C. M. Rønning in ihrem Heimatland sowohl Leser als auch Kritiker.

Familie mit schlechtem Ruf

„Skabelon“ – das lässt womöglich zuerst an ein Fantasie-Reich oder ein magisches Amulett denken. Noch vor Beginn des Romans wird die Bedeutung erklärt. Es stammt vom deutschen Wort „Schablone“, kann auch scherzhaft für die Gestalt, die ein Lebewesen oder ein Gegenstand annimmt, stehen. Abwertend kann es auch „Missgestalt“ bedeuten. „Skabelon“, das sagt die Mutter in einer Szene, als diese wie so oft in der Badewanne liegt, abfällig zu ihrer Tochter. Denn Urd, die wir zum ersten Mal begegnen, als sie fünf Jahre alt ist, ist ein eigentümliches Kind, aus einer Familie, die keinen guten Ruf hat und über die andere Leute lästern.

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Die Familie lebt abseits, im Wald, in der Nähe sind ein Moor und ein See. Der Weg in die Siedlung ist weit. Während die Mutter mit den Kindern in einem roten Haus wohnt, zieht sich der Vater in einen Wohnwagen zurück. Er arbeitet dann und wann als Holzfäller, ist tage-, wenn nicht sogar wochenlang fern seiner Frau und den Kindern. Die Mutter scheint mit ihren vielen Kindern völlig überfordert zu sein. Das Haus ist schmuddelig, das Geld knapp, die Lebensmittel sind begrenzt. Die Kinder holen aus anderen Häusern und Gärten Vorräte oder andere brauchbare Dinge.  Die sozialen Kontakte sind spärlich, sie weiß nicht, wer ihre Großeltern sind. Was die Kinder lernen, lernen sie meist auf eigene Faust. Die Gesten körperlicher Nähe und Zuneigung der Eltern sind aufs Nötigste reduziert. Als Ira – jedes der Kinder hat einen kurzen, auf eine Silbe beschränkten Namen – hohes Fieber bekommt, muss sich der Älteste, Ask, um seine kranke Schwester kümmern, die später in ein Krankenhaus eingeliefert wird. Als die älteren Geschwister nach und nach das Haus verlassen, sehr früh auf eigenen Beinen stehen, fühlt sich Urd allein- und zurückgelassen.

„Menschen haben in ihrem Inneren nur Platz für sich selbst, und etwas Helles und etwas Dunkles. Aber ich habe mehr, ich habe alle Tiere, mein Körper ist eine Landschaft, und darin wohnen sie, in verschiedenen Räumen: Vielfraße und Füchse und Bären und Hirsche und Elche und Spinnen und Krähen und Habichte und Hechte (…).“

Erzählt wird das Geschehen aus der Sicht des Mädchens, das wir mehrere Jahre begleiten. Sie schildert die Ereignisse in der Familie, in der Schule, bei ihren ausgiebigen Streifzügen durch die Natur, die ihr Rückzugsort und ihr Zuhause ist, in dem sie Frieden findet. Den verschiedensten Tieren, selbst gefährlichen, begegnet sie ohne Scheu und Angst, sondern eher mit einer kindlichen Neugierde und Offenheit. Sie tagträumt, lebt in ihrer eigenen, von Tieren und Pflanzen umgebenen Welt, in der sie schon früh mit Tod und Vergänglichkeit konfrontiert wird. Nicht nur in ihrer Familie gilt sie deshalb als seltsam. In der Begegnung mit Menschen fühlt sie sich unsicher. Schockerlebnisse sind oft mit Menschen verbunden. In einem Notizbuch schreibt sie die Dinge auf, die mit der Zeit verschwinden.

Heldin und empfindsame Beobachterin

Urd erweist sich als eine gute und überaus empfindsame Beobachterin. Ihre Beschreibungen, auch die Rückblicke, sind sinnlich und detailreich. Gerüche und Geräusche der Umgebung werden für den Leser so nahbar. Man erlebt, fühlt mit, sieht die Bilder eindrücklich vor Augen. Empfindet zunehmend eine gewisse Abneigung gegenüber der kaltherzigen Mutter, wobei man sich auch fragt, welche Erlebnisse und Erfahrungen sie zu jener Person hat werden lassen, die sie nunmehr ist. In einer Szene während der Hochzeit von Urds Schwester Una gibt es eine kleine Andeutung, die jedoch im Wagen bleibt.

Malin C. M. Rønning, 1985 in der südnorwegischen Stadt Porsgrunn geboren, studierte kreatives Schreiben in Bø und literarische Gestaltung im schwedischen Göteborg. Für „Skabelon“ wurde sie mit dem „Subjektprisen“, dem Preis der norwegischen Kulturzeitung „Subjekt“, in der Kategorie Literatur geehrt und stand auf der Liste der Nominierten für den Tarjei-Vesaas-Debütantenpreis. Die Autorin lebt und arbeitet in Oslo.

„Skabelon“ kann als ein erdrückendes soziales Drama und düsterer Gegenentwurf zu den meist idyllisch erscheinenden Werke des „Nature Writing“-Genres sowie als psychologisches Anti-Märchen gelesen werden. Vielleicht werden einige in diesem Roman auch eine Ode an die Kraft der Natur und eines besonderen Kindes  erkennen. Es gibt stille, aber auch Schreckmomente. Die Sprache ist sinnlich und bildhaft, in ihrer knappen und präzisen Form ist sie auf eigenwillige Art auch poetisch, meisterhaft von Andreas Donat ins Deutsche übertragen. Der Roman zeigt einmal mehr, dass die norwegische Literatur über ihre Klassiker und ihre schon großen, auch in hiesigen Breiten bekannten Namen hinaus mit mutigen und speziellen Werken aus der Riege der jüngeren schreibenden Generation überzeugen – und erstaunen kann.


Malin C. M. Rønning: „Skabelon“, erschienen im Karl Rauch Verlag, in der Übersetzung von Andreas Donat; 224 Seiten, 22 Euro

Foto von Kris-Mikael Krister auf Unsplash

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