„Ich selbst bin es, der ich in deinem Schrei begegne.“
1905 entstanden, zeigt ein Öl-Gemälde den berühmten Künstler als Selbstporträt und seine Geliebte an seiner Seite. Längst war da die wechselvolle Beziehung in die Brüche gegangen. Gut drei Jahren waren Edvard Munch (1863 – 1944) und Mathilde „Tulla“ Larsen (1869 – 1942), die Frau mit den roten Haaren, ein Paar. Doch die Dominanz Munchs, der körperlich wie seelisch angeschlagen war und unter erheblichen Selbstzweifeln leidete, brachte auch Tulla Larsen an den Rand der Verzweiflung. Die norwegische Autorin, Dramatikerin und Regisseurin Lene Therese Teigen hat sich intensiv mit beiden und deren Beziehung beschäftigt. Entstanden ist ein faszinierender wie erhellender Roman, der nicht nur den Fokus auf die Sicht der Frau auf diese schwierige Partnerschaft lenkt, sondern auch von der fehlenden Anerkennung von Künstlerinnen in dieser Zeit erzählt.
Ein unruhiges Leben
Dabei hätten sie eine gewisse Zeit glücklich miteinander sein können. Beide sind voneinander fasziniert. Gefühle entstehen. Beide begegnen sich auf einer gewissen Augenhöhe. Denn Tulla Larsen, Tochter eines erfolgreichen und angesehenen Weinhändlers, ist selbst Künstlerin, die Munch an ihrem 29. Geburtstag im berühmten Café Central in Kristiania/Oslo kennenlernt. Seine markanten Bilder lernte sie bereits zuvor bei Ausstellungsbesuchen kennen. Doch Munch, der seine Geliebte auf mehreren seiner bekanntesten Werke verewigen wird, bestimmt die Regeln dieser Partnerschaft. Er geht ihr aus dem Weg, schiebt seine Krankheit als Entschuldigung vor und überhäuft sie mit Vorwürfen, in denen er ihr ein unsensibles Verhalten vorwirft. Beide sind in dieser Zeit stets und ständig unterwegs, sie reisen miteinander oder voneinander getrennt durch halb Europa: Frankreich und Italien, aber auch Berlin, Dresden, Potsdam und Wittenberg in Deutschland sind Stationen. Ein unruhiges Leben, eine zerfahrene Liebe.
In ihrer Verzweiflung greift Tulla zu Morphin, um ihrem Leben ein Ende setzen; doch der Suizid-Versuch misslingt. Eine Szene in Munchs Sommerhaus in Åsgårdstrand am Oslofjord, in der eine Schusswaffe eine nicht unwesentliche Rolle spielt, beendet schließlich die Beziehung, die oft nur mittels „mikroskopisch kurzer Begegnungen“ lebendig gehalten wird, auf dramatische Weise. Tulla lässt ihre große Liebe hinter sich.
In vier zeitlich versetzten Rückblicken lässt Teigen Tulla an die Jahre mit Munch erinnern. Der Leser gewinnt nicht nur Eindrücke von der Partnerschaft mit ihren Höhen und Tiefen. Geschildert wird auch ihr späteres Leben an der Seite ihrer beiden Ehemänner, dem Künstler Arne Kavli und dem Schiffsmakler Hans Behr. Immer wieder tauchen besondere historische Schlaglichter auf. Eingerahmt ist dieser Rückblick von den Jahren 1916 und 1939, als jeweils ein schrecklicher Krieg tobte. Immer befindet sich Tulla in der Szene in dem jeweiligen Haus, in dem sie lebte, ihr Blick aus dem Fenster schweift über die Straße und fängt die dortigen Geschehnisse ein. Sie wird umsorgt von einer Haushälterin und hält sich an einem Bündel Briefe sowie Munchs Gemälden fest.
„Das Leben ist ein Puzzle, dessen Größe ich nicht erahne. Auch nicht, was für ein Bild es darstellen soll. Jedenfalls nicht vor dem Tod. Dann werde ich wohl Freiwild erster Güte sein. Zum Glück gibt es keine Nachfahren, die berichten können. Und die Bilder dürfen ihre eigenen Geschichten erzählen.“
Zeitsprünge und Perspektivwechsel – neben Auszügen aus Notizen und Briefen bettet die Autorin ein Gespräch Tullas mit einer unbekannten Person ein – machen die Lektüre zu Beginn nicht leicht. Wer jedoch über die ersten 20 bis 30 Seiten hinaus gelangt und Interesse am Leben beider hegt, wird letztlich einen Sog verspüren, der auch durch gewisse Redundanzen seine Wirkung nicht verliert. Es fasziniert, über einen ambivalenten wie schwierigen Künstler-Charakter, über eine Frau, die trotz gesellschaftlicher Hürden und der fehlenden Unterstützung ihrer Familie und ihrer Liebe kreativ war, und über die Vernetzung in Boheme-Kreisen zu lesen. Tulla Larsen hielt Kontakt zu den unterschiedlichsten Kunstschaffenden. Mit dem norwegischen Dramatiker Gunnar Heiberg verband sie eine Freundschaft, sie kannte sowohl den deutschen Maler und Dichter Max Dauthendey als auch die norwegische Malerin Cecilie Dahl. Künstlerisch setzte sie sich vor allem mit der Technik der Radierung auseinander. Es ist wohl eine Ironie des Schicksals, dass unter anderem ihr Werk „Zwei Menschen“, das in dem Band zu finden ist, heute zum Bestand des Munch-Museums zählt, damit nahezu vereint ist mit den Gemälden ihrer einstigen großen Liebe.
Dokumente bilden Basis
War in der Literatur die unheilvolle und toxische Beziehung vor allem von dem Blick Munchs und der Kritik am Verhalten Tullas geprägt, fokussiert sich Teigen auf die Sicht der Frau. Zugleich widmet sich die Autorin dem Einfluss der Gesellschaft und der Familie, wie sie auch in einem Nachwort ausführt. Bereits vor 25 Jahren beschäftigte sich die Norwegerin im Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunksenders NRK mit ihrer Landsmännin. Sie ist bekannt für ihre auf wissenschaftlicher Recherche basierenden Theaterstücke, die sich häufig mit dem Thema Gleichberechtigung auseinandersetzen. Von 2010 bis 2015 war sie Vorsitzende der Organisation Women Playwrights International (WPI). 2018 erhielt Teigen das Munch-Stipendium der Stadt Oslo. Wichtige Grundlagen ihres Romans, der sich sprachlich mal poetisch, mal eher journalistisch-sachlich zeigt und 2019 mit dem markanten Titel „Tulla Larsen, Mathilde Munch“ im Original erschienen ist, sind Briefe und Notizen Munchs sowie Tagebuch-Einträge von Tulla Larsen. Durchgestrichene Wörter oder ganze Textpassagen, wie im Titel zu finden, gibt es häufiger in diesem Buch.

Teigen ist ein vielschichtiges Werk gelungen, das nicht nur über zwei besondere Menschen, sondern auch über die Zeit, in denen sie gelebt haben, überaus anschaulich und eindrücklich erzählt. Dabei verhandelt der Roman Themen wie die Rolle der Frau und die fehlende Anerkennung von Künstlerinnen, das Verstreichen der Zeit, Genie und Wahnsinn, die Bedeutung der Künstlerkreise sowie der Wandel in Norwegen. So erlebt Tulla Larsen, wie Kristiania in Oslo umbenannt wird und wie mit dem Vigeland-Park mit den riesigen Figuren des Bildhauers Gustav Vigeland eine der bis heute meist besuchten Touristen-Attraktionen der nordischen Hauptstadt entsteht, wobei mit dem neuen Munch-Museum in Oslo, eröffnet im Herbst vergangenen Jahres, ein weiterer Besuchermagnet geschaffen wurde.
Weitere Besprechungen gibt es auf „Mona Lisa Blog“ und dem Blog „Kulturbowle“.
Lene Therese Teigen: „Schatten der Erinnerung. Tulla Larsen und Edvard Munch“, erschienen im Verlag ebersbach & simon, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Daniela Stilzebach; 336 Seiten, 24 Euro
Foto von Nyana Stoica auf Unsplash
Super! Jetzt bin ich wieder neugierig geworden …
Viele Grüße!
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Das freut mich. Ich bin gespannt, wie es Dir gefällt. Danke für Deinen Kommentar und viele Grüße zurück nach Berlin.
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