Helga Flatland – „Zuunterst immer Wolle“

„Aufsässigkeit ist einfacher als Entschuldigung, harte, kalte Distanz einfacher als Scham und Angst.“

Ein einziger Anruf hebt das Leben von Sigrid aus den Angeln. Ihre Mutter Anne erzählt ihr, dass sie an Krebs erkrankt ist. In den kommenden Monaten wird die Ärztin nicht nur mit den furchtbaren Folgen der heimtückischen Krankheit ihrer Mutter konfrontiert. In die Gefühle zwischen Verzweiflung, Trauer und Hoffnung mischen sich schmerzvolle Erinnerungen an ihre Kindheit. In ihrem eindrücklichen Roman „Zuunterst immer Wolle“ nimmt die norwegische Schriftstellerin Helga Flatland das Leben und die vielschichtigen Beziehungen einer Familie mit sehr viel Feingefühl in den Fokus.

Zwiespältige Gefühle

Womöglich haben einige nach dem Wort „Krebs“ aufgehört, diesen Beitrag zu lesen. Vielleicht sind es jene, die einen ähnlichen Fall in der Familie erlebt, einen geliebten Menschen verloren haben oder gerade nach der niederschmetternden Nachricht gegen den Krebs ankämpfen. Auch ich spürte zuerst ein Unbehagen, umkreiste das Buch mit zwiespältigen Gefühlen, verspürte eine gewisse Furcht, dass mit dem Lesen vieles wieder hervorgeschwemmt wird, was sich mit der Zeit im Inneren versteckt hat wie ein kleines ängstliches Tier. Und so war es letztlich auch. Ich musste das Buch mehrfach zur Seite legen, weil der Inhalt an mir zerrte, etwas aufriss, er Erinnerungen auslöste. Meine Mutter starb mit 67 Jahren. Mehr als 20 Jahre vergingen zwischen der ersten Diagnose Nierenkrebs über endlos erscheinende Therapien, mit denen das Gift in ihren Körper stetig sickerte, über leise Hoffnungsschimmer bis hin zu den nächsten Hiobsbotschaften, dem Abbruch der letzten Chemo weil die Kräfte schwanden und dem letzten Atemzug an einem Januarmorgen. Doch ich glaube, dass man Trauer und Schmerz zulassen und ihnen nachspüren sollte. Es lässt sich schwer ein Wort finden für diesen innerlichen Prozess, wobei jeder Betroffenen selbst entscheiden sollte, ob er sich mit einem solchen Buch mit dem Erlebten auseinandersetzen möchte.

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Nach der Diagnose kümmern sich Sigrid und ihr Bruder Magnus um Anne, fahren regelmäßig trotz großer Distanz – die Mutter wohnt an der Westküste, Sigrid in Oslo – nach Hause, wo sie mit einem weiteren kranken Menschen konfrontiert werden. Ihr Vater lebt nach mehrere Schlaganfällen in einem nahegelegenen Pflegeheim. Hat sich Anne in den vergangenen Jahren um ihren Mann gekümmert, ist sie es nun, die Hilfe braucht. Der Verfall schreitet schnell voran, der Körper baut ab, wird anfällig für Infektionen. Jene umtriebige Frau, die sich um den Hof gesorgt, als Lehrerin gearbeitet und jeden Tag in das Meer zum Schwimmen gesprungen ist, nimmt wahr, wie ihr nach und nach die Kräfte ausgehen. Während vor allem Magnus sich die Hoffnung nicht nehmen lassen will, stellt sich bei Anne eine gewisse Todessehnsucht ein. Sigrid ist indes hin- und hergerissen – als Medizinerin, als Mutter und Tochter, die sich in der Kindheit von ihren Eltern vernachlässigt gefühlt hat. Hinzu kommen der Fall einer psychisch-labilen Patientin und ihr eigenes Gefühlschaos: Denn mit der Krankheit ihrer Mutter lebt der Kontakt zu ihrem Ex Jens auf, der sie einst sitzen gelassen hat, als sie mit ihrer gemeinsamen Tochter Mia schwanger war. Mittlerweile ist Mia erwachsen. Und sie sucht den Kontakt zu ihrem leiblichen Vater, was Sigrids Lebensgefährte Aslak, der Vater des kleinen Viljar, wiederum verletzt. Sigrid wiederum stößt es auf, dass ihre Tochter eine scheinbar engere Bindung zu Anne findet.

„Am liebsten würde ich sagen, ich hätte es für sie getan, damit sie mich nicht verwittern sehen müßten, nicht das Gefühl bekämen, sie müßten auf mich aufpassen, da sein, zwei, drei, vier, fünf Jahre lang Zeugen davon werden, wie ich schrittweise mehr und mehr verfiele, mehr und mehr bräuchte, immer anstrengender würde.“

Die große Stärke des nicht einmal 300 Seiten umfassenden Romans ist seine Komplexität. Als eine Art Kammerspiel mit nur wenigen Protagonisten beschreibt Flatland die verschiedenen, auch Wandlungen unterliegenden Beziehungen in- und außerhalb der Familie. Das Geschehen wird in einer sehr klaren, aufs Wesentliche reduzierten Sprache und aus den Perspektiven von Anne und Sigrid erzählt, die sowohl im Zentrum stehen, als auch Teil des vielschichtigen Beziehungsgeflechts sind. In den Erinnerungen der einzelnen Figuren spiegelt sich darüber hinaus die Vergangenheit wider. Ich habe mich ab und an in Sigrid erkannt: Auch ich wollte das Sterben nicht wahrhaben, während meine Mutter letztlich wie Anne oft davon sprach. Ihre letzte Zeit ließ mich erfahren, dass es jenen bestimmten Moment gibt, in dem der bewusste Wille zu sterben den Willen zu leben verdrängt. Der Roman ist frei von Urteilen, er richtet nicht, sondern zeigt die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten auf, wenn ein solches Schicksal ins Leben eines Menschen und seiner Angehörigen tritt. Schätzungsweise eine halbe Million Menschen jeden Alters erkranken jährlich in Deutschland an Krebs.

Preisgekrönte Autorin

Bereits mit ihrem Roman „Eine moderne Familie“ (Weidle) lässt Flatland den Leser in das gemeinsame Leben mehrerer Generationen blicken, die sich zwar sehr nahe stehen, aber auch Gefühle einer gewissen Distanz verspüren. Flatland, die 1984 in Flatdal/Telemark geboren wurde und 2010 debütierte, war mehrfach für den Preis des norwegischen Buchhandels nominiert, den sie schließlich für „Eine moderne Familie“ erhielt. Es stand in ihrem Heimatland im Jahr 2017 auf Platz drei der meist verkauften Bücher im Bereich Belletristik. Mit „Etterklang“ erschien in diesem Jahr ihr jüngstes Werk.

„Zuunterst immer Wolle“ widmet sich auf sensible Art und Weise den Themen Krankheit und Tod, Trauer und Schmerz und findet den richtigen Ton, um die Gefühle der Figuren wie Wut, Schock und Hilflosigkeit offenzulegen, der Frage nachzugehen, was ist zuletzt in der Zeit das Abschieds noch zu klären. Der Titel findet sich in einer sehr berührenden Szene wenige Seiten vor dem Abschluss des Romans, der im Original den Namen „Et liv forbi“ trägt und souverän von Elke Ranzinger übersetzt wurde. Flatland hat einen aufwühlenden und virtuosen Roman geschrieben, der letztlich beweist, dass es für manches Buch entscheidend ist, wann und wie es gelesen wird.


Helga Flatland: „Zuunterst immer Wolle“, erschienen im Weidle Verlag, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger; 280 Seiten, 25 Euro

Foto von Bananna Wintour auf Unsplash

5 Kommentare zu „Helga Flatland – „Zuunterst immer Wolle“

  1. Auch ich bedanke mich für Deine persönlichen Worte. Leider bin ich in der Familie ganz frisch ebenfalls mit dem Thema Krebs konfrontiert. Auch wenn jede Geschichte anders ist, ist es doch gut zu wissen, dass man nicht allein ist.

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    1. Vielen Dank für Deinen Kommentar. Ja, es gut zu wissen, dass man gewisse Erfahrungen teilt, es eine Verständnisbasis gibt, es tut mir sehr leid, dass Du damit konfrontierst wird. Ich wünsche Dir, Deiner Familie und vor allem dem/die Betroffene(n) alles Gute, viel Kraft und eine gute medizinische Betreuung. Viele Grüße

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