Familie mal zwei – Bücher von Hanne Ørstavik und Helga Flatland

„Irgendwas ist in jeder Familie.“ 

Keine Familie ist wie die andere. In ihr herrschen Gesetze und Geheimnisse sowie Bindungen und Emotionen unterschiedlicher Stärke. Sie kann wachsen und über Generationen hinweg bestehen oder sich auflösen. Die beiden norwegischen Autorinnen Helga Flatland und Hanne Ørstavik haben mit „Eine moderne Familie“ und „Die Zeit, die es dauert“ zwei besondere, sehr verschiedene Geschichten über dieses Thema geschrieben. Beide Titel ergänzen sich wunderbar und geben zugleich einen spannenden Einblick in die Gegenwartsliteratur des nordischen Landes.

Mehrfach preisgekrönt

Beide Frauen zählen in ihrem Heimatland zur ersten Riege bedeutender Schriftstellerinnen. Während Ørstavik, Jahrgang 1969 und Preisträgerin des bedeutenden Brage-Preises, bereits mit Übersetzungen in Deutschland angekommen ist und ihr nächster Roman „Roman.Milano“ im August in die Buchläden kommt, erschien infolge der Frankfurter Buchmesse 2019 mit Norwegen als Gastland ein Werk ihrer 15 Jahre jüngeren Kollegin und Landsmännin erstmals in deutscher Übertragung. „Eine moderne Familie“ zählte 2017 zu den meist verkauften Büchern in Norwegen. Flatland, die 2010 debütierte, erhielt mehrfach den Preis des norwegischen Buchhandels. Grund genug, sie in den kommenden Jahren auch hierzulande nicht aus den Augen zu verlieren.

Familie

In „Die Zeit, die es dauert“ wird von Signe, die mit Mann und Tochter auf einen Bauernhof gezogen ist, erzählt. Vater, Mutter und Bruder stehen wenige Tage vor Weihnachten gemeinsam vor ihrer Haustür. Das Wiedersehen löst in ihr traumatische Jugenderinnerungen an einen Sommer sowie Tage im Advent aus. Die Zeiten verschwimmen in Signes Rückblick. Einstige Ereignisse, die von Spannungen, gar psychische wie physische Gewalt bestimmt sind und deren Zeugin und Opfer Signe wurde, sind schließlich der Auslöser, dass sie, nunmehr erwachsen, zu ihren Eltern Abstand genommen hat und dies beiden nunmehr deutlich werden lässt, obwohl die junge Frau den Zauber um das Fest der Feste liebt. Der Roman, der im Norden Norwegens angesiedelt ist, ist Teil einer Trilogie, zu der bereits die Bände „Liebe“ sowie „So wahr wie ich wirklich bin“ zählen.

In allen drei Werken stehen die Beziehungen der Jüngeren zu den Älteren im Fokus, alle drei beginnen in einer ruhigen Atmosphäre, deren Dramatik sich Szene für Szene allmählich steigert. Die Norwegerin schaut sehr genau in einer sehr klaren, präzisen Sprache in die Beziehungen zwischen den Generationen, legt emotionale Schichten im Wesen ihrer Heldin frei  und beschreibt detailreich und stimmungsvoll Geschehnisse sowohl voller Stille als auch purer Dramatik. Hinter der scheinbaren Idylle warten unausgesprochene Gedanken und Gefühle sowie das Dunkle, das beim Leser zunehmend für Beklemmung sorgt.

„Sie sah die beiden vor sich, es war ein Bild, das sie in- und auswendig kannte: Sie starrten einander an, die Mutter saß am Tisch und der Vater stand beim Kühlschrank, sie sagten nichts.“

Kinder und ihre Eltern stehen auch im Zentrum von Flatlands Roman. Zu seinem 70. Geburtstag verkündet Familienvater Sverre, dass er und Toril sich nach 40 Jahren Ehe scheiden lassen. Ihre drei Kinder Liv, Ellen und Håkon reagieren unterschiedlich, jedoch zum größten Teil mit Bestürzung auf diese Nachricht, die die Eltern verkünden, als die Familie gemeinsam in Italien weilt. Die Trennung bringt Chaos und Veränderungen in das Leben aller. Liv, Mutter zweier Kinder, hinterfragt ihre eigene Ehe, Ellen verzweifelt zunehmend an ihrer Kinderlosigkeit. Håkon, der jüngste Spross, hofft indes auf die große Liebe in völliger Freiheit fern der traditionellen Vorstellungen einer Ehe. Die drei erwachsenen Kindern, nunmehr 40, 38 und 30 Jahre alt, blicken aus ihrer jeweiligen Perspektive zurück auf die Vergangenheit als Familie. Eine Zeit, die nicht frei von Tragödien war. Der über alles geliebte Sohn von Sverre und Torill litt seit der Geburt an einem Herzfehler. Voll konzentriert auf ihr jüngstes Kind, schenken die Eltern den beiden Töchtern weniger Aufmerksamkeit, Ellens Legasthenie blieb deshalb unerkannt. Das Geschwister-Trio berichtet zudem von Beziehungen innerhalb und außerhalb der Familie sowie Rollenwechsel, da einer die Aufgaben des anderen übernimmt. „Eine moderne Familie“ erzählt darüber hinaus vom haltlosen Verstreichen der Zeit und dem Älterwerden, von Einsamkeit, falschen Erwartungen und bitteren Enttäuschungen.

Spannung und Präzision

Beide Romane bestechen durch ihre psychologische Spannung und Tiefe sowie durch eine Sprache, die die vielfältigen wie prägenden Emotionen und Gedanken der Protagonisten sowie den Blick in den Familienalltag sehr genau einfängt. Es sind oft die Erinnerungen, die die Haltung und Meinung der Figuren formen. An dieser Stelle geht ein Lob auch in Richtung der beiden Übersetzer Andreas Donat und Elke Ranzinger, denen es außerordentlich gelungen ist, die Stimmungen und die Präzision in die deutsche Sprache zu übertragen. Zugleich zeigen beide Bücher, dass das vielschichtige Thema Familie noch immer Überraschungen bereithält und zu eindrücklicher Literatur mit Sogwirkung taugt. Es scheint also noch längst nicht alles erzählt zu sein.

Weitere Besprechungen gibt es auf den Blogs „literaturleuchtet“, „mona lisa bloggt“ und „Literatur outdoors“.


Hanne Ørstavik: „Die Zeit, die es dauert“, erschienen im Karl Rauch Verlag, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Andreas Donat; 272 Seiten, 22 Euro +++ Helga Flatland: „Eine moderne Familie“, erschienen im Weidle Verlag, in der Übersetzung von Elke Ranzinger; 308 Seiten, 25 Euro

Foto von Angelo Pantazis auf Unsplash

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