Ingvild H. Rishøi – „Andere Sterne“

„Manchmal gibt es einfach keinen Ausweg, und dann geschieht ein Wunder.“ 

Weihnachten steht vor der Tür. Wie jedes Jahr. Für den Weihnachtsbaum-Verkauf im Osloer Stadtteil Tøyen wird ein pflichtbewusster und verantwortungsvoller Mitarbeiter gesucht. Für den Vater von Ronja und Melissa die Chance, nach seinen zahlreichen Abstürzen wieder auf die Beine zu kommen, seinen Kindern ein gesichertes Leben zu bieten. Doch dann wird wieder alles so wie befürchtet. Nur diesmal helfen sich die beiden Schwestern selbst und übernehmen Verantwortung – mit der Unterstützung anderer. Mit ihrem Roman „Andere Sterne“ hat die norwegische Autorin Ingvild H. Rishøy eine besondere Weihnachtsgeschichte geschrieben, die sowohl den Zauber des Festes einfängt, als auch traurige Einblicke in eine mit Sorgen behaftete Familie gibt. 

Besonderes GEschäftsmodell 

Alkoholismus ist kein Wohlfühlthema, sondern ein brisantes, mit einem Tabu belegtes. Über die Erkrankung wird meist geschwiegen, während auf der anderen Seite das Alkoholtrinken gleichsam heroisiert wird. Abstinenzler müssen sich oft erklären. Ein Teufelskreislauf für Betroffene und ihre Angehörige. Ronjas und Melissas Vater besucht regelmäßig die Kneipen, die so wohlklingende Namen wie „Venner“ („Freunde“) und „Stargate“ tragen. Hat er eine Arbeit, verliert er sie nach kurzer Zeit wieder, denn am Tag muss er seinen Rausch ausschlafen. Nach einigen Jobs in einer Bäckerei, bei Aldi oder bei der Straßenbahn soll er nun auf einem Weihnachtsmarkt Weihnachtsbäume verkaufen. Die Hoffnung und frohe Stimmung der beiden Geschwister ist nur von kurzer Dauer. Ihr Vater verliert erneut den Job, den Vorschuss gibt er letzten Endes auch für Alkohol aus. Melissa übernimmt schließlich seine Aufgabe und verkauft nach der Schule Weihnachtsbäume, ohne die körperlich harte und unangenehme Arbeit zu scheuen. Gemeinsam mit Tommy, einem weiteren Mitarbeiter, brummt das Geschäft, weil auch Ronja eine spezielle Aufgabe zufällt. Doch das Glück ist nur von kurzer Dauer, als der Chef Eriksen hinter das besondere Geschäftsmodell kommt.      

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Erzählt wird das Geschehen aus der Sicht Ronjas, die im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester Melissa noch Träume und die Hoffnung hat, dass irgendwie alles gut geht, während Melissa aufgrund ihrer Erfahrungen alles aus einer realistischen Perspektive betrachtet und weiß, wie der Hase mittlerweile läuft. Eine Mutter gibt es in dieser Geschichte nicht, wohl aber Menschen, die den beiden Mädchen in ihrer schweren und herausfordernden Lage helfen: wie der freundliche und weise Hausmeister an Ronjas Schule, der ihr von dem Job beim Weihnachtsbaum-Verkauf erzählt, der mit ihr sein Börek teilt, weil sie ihr Essen bereits an das Eichhörnchen verfüttert hat. Und da sind auch der ältere und hilfreiche Nachbar Aronsen, der von der Situation der Familie weiß, sowie eben Tommy, der mit den Mädchen ein gutes Team bildet, weil allerdings auch er als werdender Vater auf das Geld angewiesen ist. Drei gute Geister, die symbolisch für Menschlichkeit stehen und einen Kontrast bilden zur schier ausweglosen Situation, denn die Geschwister fürchten das Jugendamt mehr als ihren betrunkenen Vater. Der Verweis auf  „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“  – neben „Die kleine Meerjungfrau“ das wohl bekannteste und auch traurigste Kunstmärchen des Dänen Hans Christian Andersen (1805-1875) – und letztlich auch Ronjas Fieber sorgen indes für eine gewisse dramatische Stimmung und die Frage, wie wohl nun diese Geschichte ausgehen wird, die eine Fantasie- und Traumwelt dem realen und harten Leben mit all seinen Herausforderungen und dramatischen Geschehnissen gegenüberstellt.     

„Ihr habt zu große Träume, sagt Melissa immer, wenn Träumen ein Job wäre, hättet ihr längst eine Villa am Holmenkollen.“ 

Rishøi lässt den Ausgang offen und gibt dem Ende eine gewisse Symbolik, wenn sie wiederholt von einem besonderen Traum Ronjas schreibt, in dem ein Wald und eine Hütte eine Rolle spielen. Durch den Blick der kindlichen Ich-Erzählerin behält diese Zeit trotz der Probleme der Familie ihren Glanz, erfährt auch der Vater keine Verurteilung. Ronja ist vielmehr hin und hergerissen zwischen ihrer Zuneigung zu ihrem Vater, der seine beiden Kinder abgöttisch liebt, und ihrer Scham und ihrem Abscheu vor seinem körperlichen Zustand, wenn er, berauscht vom Alkohol, nicht Herr seiner Sinne ist und sich und seine Kinder vernachlässigt.    

Mehrfach preisgekrönt 

Die norwegische Autorin, 1978 in Oslo geboren und ausgebildete Journalistin, ist für ihr bisheriges Schaffen, vorrangig Erzählungen und Kinderbücher, mehrfach ausgezeichnet worden. 2013 erhielt sie den Per-Olov-Enquist-Preis, ein Jahr später den renommierten Brage-Prisen für den Band  „Winternovellen“, für den sie zuvor in gleich zwei Kategorien nominiert war. Das Preisgeld spendete sie der norwegischen Jugendumweltorganisation „Natur og ungdom“. Auch mit ihrem jüngsten Werk, ihrem ersten Roman, „Andere Sterne“, 2021 im Original mit dem Titel „Stargate – en julefortelling“ erschienen, landete sie auf der Liste der Nominierten für den Brageprisen. Sie hat selbst bei einem Weihnachtsbaum-Verkauf gearbeitet, um Erfahrungen für ihr Buch zu sammeln.

Es ist ein schmaler, ganz zauberhafter Roman, der lange nachhallt und mit seiner Geschichte sowie seinen besonderen Charakteren sowohl berührt als auch zum Nachdenken anregt und damit einen speziellen Platz in der Reihe an Weihnachtsliteratur verdient. 

Eine weitere Besprechung gibt es auf dem Blog „Feiner reiner Buchstoff“.


Ingvild H. Rishøi: „Andere Sterne. Eine Weihnachtsgeschichte“, erschienen im Dumont Buchverlag, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Daniela Syczek; 152 Seiten, 20 Euro

Foto von Kim Woojeong auf Unsplash

2 Kommentare zu „Ingvild H. Rishøi – „Andere Sterne“

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