Schmerz und Vergebung – Fernando Aramburu „Patria“

„Nichts wollte ich im Leben weniger als hassen.“

Es ist ein regnerischer Nachmittag, die Straßen sind leer. Keiner ahnt, dass es nur wenige Sekunden sind, die das Leben von zwei Familien für immer verändern werden. Der Fuhrunternehmer Txato wird in seinem baskischen Heimatdorf mit gezielten Schüssen getötet. Zeugen gibt es nicht. Doch schnell wird bekannt, wer hinter dem Mord steckt: die ETA. Verdächtigt wird Joxe Mari, Sohn von Miren und Joxian, die Freunde von Txato und seiner Frau Bittori sind. Beziehungsweise waren. Denn nach dem Attentat ist nichts mehr, wie es einmal war. Welche Folgen konkret diese Tat und allgemein der Terrorismus hat, erzählt der Spanier Fernando Aramburu in seinem meisterhaften Roman „Patria“.

„Patria“ heißt übersetzt Heimatland. Die ETA hatte sich zum Ziel gesetzt, im Nordosten Spaniens einen eigenen baskischen Staat auf der Grundlage des Sozialismus zu gründen. Meist mit Waffengewalt. 1959 als Untergrundorganisation ins Leben gerufen, fielen bis zur Auflösung und dem Waffenstillstand im Jahr 2011 mehr als 820 Menschen den Terroranschlägen zum Opfer. Das Ende von ETA bildet zugleich den Beginn des Romans. Die beiden Frauen Bittori und Miren hören unabhängig voneinander von der Entwaffnung der ETA. Die Witwe entscheidet sich, in das Heimatdorf zurückzukehren, das verlassene Haus der Familie wieder mit Leben zu füllen. Jahre hat sie in der nahe gelegenen Stadt San Sebastian verbracht, wo auch ihr Mann beerdigt wurde. Miren beobachtet die Rückkehr ihrer Nachbarin indes mit Argusaugen und einigem Missfallen. Ein tiefer Graben hat sich nach dem Mord an Txato und der späteren Inhaftierung von Joxe Mari gebildet, obwohl die verschiedenen Generationen einst sehr enge Bindungen gepflegt haben. Sowohl zwischen den Kindern als auch den Erwachsenen bestanden Freundschaften. Doch auch Jahrzehnte danach gehen sich die Angehörigen beider Familien aus dem Weg, vergiftet vor allem Miren die Atmosphäre, die über all die Jahre ihren Sohn und den Kampf der ETA nicht nur im Geiste, sondern auch vehement verteidigt sowie das Andenken an den Freund ihres Mannes in den Schmutz gezogen hat. Obwohl Txato Männer mit seinem Unternehmen in Lohn und Brot brachte, wurde er als Ausbeuter beschimpft.

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Sehr präzise und von hoher Spannung getragen beschreibt Aramburu, wie aus dem Jungen ein Untergrundkämpfer wird, wie sich die ersten Angriffe auf Txato in Form von Schmierereien und Erpresserbriefen sich erheben zum allerletzten gewalttätigen Akt an einem regnerischen Nachmittag, der fortan das Leben der beiden Familie in ein „Davor“ und „Danach“ – wie mit einem scharfen Messer geschnitten – abgrenzt. Joxe Maris „Karriere“ beginnt früh: Als Kind schießt er mit seiner Schleuder auf Fensterscheiben und Vögel. Es folgen Demonstrationen und Brandanschläge, bis er sich schließlich in den Untergrund in Frankreich begibt und einer Gruppe von wenigen Kämpfern anschließt. So psychologisch herausragend der Spanier das Leid in all seinen Facetten anhand der verschiedenen Figuren beschreibt, so stellvertretend für einstige wie heutige Terrororganisationen erscheint die Entwicklung und die gedankliche Grundlage des selbst ernannten Kämpfers, der glaubt, sich mit allen Mitteln für eine gute Sache und für seine Heimat einzusetzen – eben auch oder vielleicht gerade mit Waffengewalt, ohne Rücksicht auf das Leid, das er selbst damit verursacht, ohne jegliches Einsehen, als ein Freund, ebenfalls im Dienste der ETA, stirbt.

„Meine Verletzung ist so groß, da gibt es keine Wunde, die geschlossen werden kann. Mein ganzer Körper ist eine Wunde. Ich glaube nicht, dass ich dir das erklären muss. Und sollte davon am Ende eine Narbe bleiben, wäre es die eines Brandopfers. Ich selbst wäre die Narbe.“

Aramburu baut das vielschichtige Geschehen, dass sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt, sehr geschickt auf, indem der Leser während der Lektüre zwischen den Zeiten hin- und herspringt, die Szenen vor und nach dem Mord vermischt sind wie bei einem Kartenspiel. Zudem sieht er die Handlung und die Erlebnisse der Protagonisten aus verschiedenen Blickwinkeln und Perspektiven. Mit sehr viel Menschlichkeit und Menschenkenntnis beschreibt er seine Figuren, die alle gezeichnet sind von der Zeit des Terrorismus, von dem Attentat, der Feinschaft zwischen den Familien, wobei der katholische Pater des Dorfes nichts für einen Frieden und eine Verständigung beizutragen hat, sondern die Gräben mit seiner Haltung vielmehr erweitert. Nicht nur zwischen den Familien, sondern auch innerhalb beider Familien existieren Risse, die vor allem auf Sprachlosigkeit und fehlendes Verständnis zurückzuführen sind. Joxian fällt es schwer, sich gegen seine dominante und oftmals kaltherzige Frau zu behaupten. Sohn Gorka hat sich längst von den Eltern distanziert, das engstirnige Heimatdorf verlassen, um als Autor und Radio-Journalist zu arbeiten. Die Tochter Arantxa sitzt nach einem Schlaganfall im Rollstuhl, vom Mann verlassen. Bittoris Kinder, ob des Verlustes ihres Vaters innerlich verwundet, gehen ihren eigenen Weg: Sohn Xavier als erfolgreicher, aber auch einsamer Arzt, Tochter hat nach ihrem Studium einen vermögenden Mann geheiratet, die Ehe ist nicht hundertprozentig harmonisch.

„Patria“ ist ein sehr ergreifender Roman, der nicht nur viel Raum für die facettenreichen Erinnerungen sowie die verschiedensten Gefühle und Gedanken seiner unvergesslichen Helden gibt, sondern mit Blick auf seinen historischen Hintergrund und angesichts politischer Entwicklungen und Geschehnisse in der ganzen Welt leider aktueller denn je ist. Doch trotz des Schmerzes und des Leides setzt das Buch ein hoffnungsvoll stimmendes Signal der Menschlichkeit und des Mitgefühls, stehen gegen Ende des Buches die Zeichen auf Vergebung. Eine intensive Botschaft, die sehr imponiert und zugleich ergreifend wirkt.

Eine weitere Besprechung ist auf dem Blog „literaturreich“ von Petra Reich zu finden. Vera Lejsek schreibt auf ihrem Blog „glasperlenspiel13“ über eine Begegnung mit dem spanischen Schriftsteller, der seit den 1980er-Jahren in Hannover lebt. Und Isabella Caldart stellt auf ihrem Blog „novellieren“ die baskische Literatur vor.


Fernando Aramburu: „Patria“, erschienen im Rowohlt Verlag, in der Übersetzung aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen; 768 Seiten, 25 Euro

Foto: pixabay 

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