„Mit unseren Erinnerungen versuchen wir, ein missglücktes Leben zu korrigieren, nur darum erinnern wir uns. Es sind die Erinnerungen, mit denen wir uns gegen Ende des Lebens beruhigen.“
Der folgende Gedanke macht zugegeben recht traurig: Der Wunsch auf ein selbstbestimmtes Leben bleibt meist unerfüllt, erweist sich als Trugschluss, als Fantasie. Selbst wenn wir hoffen, wenn wir tapfer, wenn wir ehrgeizig sind. Unser Lebensweg wird oft in andere, nicht gewollte und erwünschte Richtungen gelenkt. Christoph Heins neuer Roman „Glückskind mit Vater“ erzählt davon und weckt ein melancholisches Gefühl wie er wiederum glücklich macht, einen besonderen Helden kennengelernt zu haben.
Wenn man dieses Buch mit seinen mehr als 500 Seiten liest, entsteht ein recht merkwürdiges, nahezu janusköpfiges Gefühl, das man sicherlich von jedem meisterhaften Roman verlangen kann. Zum einen fühlt man sich als Teil des Geschehens, als Vertrauter des Protagonisten namens Konstantin Boggosch, zum anderen fühlt es sich an, als ob die Geschichte in einen hineinkriechen will. Denn „Glückskind mit Vater“ erzählt nicht nur das nachdenklich stimmende Leben eines Mannes, der die Schattenseiten dreier Systeme kennenlernen muss. Mit Konstantin Boggosch hat Hein wohl einen der sympathischsten Helden der deutschen Gegenwartsliteratur geschaffen. Als Ich-Erzähler berichtet er von seiner Kindheit, über das Erwachsenwerden und -sein bis zum Altern. Ein Zeitrahmen wird dabei gespannt, der von der Nachkriegszeit bis in die jüngste Vergangenheit reicht.
Konstantin wächst als Halbwaise auf. Erst als Schuljunge erfährt er, dass sein Vater ein Kriegsverbrecher war, der in Polen standesrechtlich hingerichtet wurde. Die Mutter versucht, dieses schreckliche Familienkapitel zu tilgen und neben Konstantin auch dessen Bruder Gunthard vor Schmach und Schande zu bewahren. Sie und ihre beiden Kinder nehmen trotz großer bürokratischen Hürden ihren Mädchennamen wieder an. Doch der Vater bleibt ein Schatten, ein Phantom, das vor allem Konstantin, der kurz nach dem Krieg zur Welt gekommen war, nicht abschütteln kann. Ihm wird sowohl der Besuch der Sportschule als auch der Zugang zur Oberschule verweigert. Mit nur 14 Jahren büxt er aus und erreicht Westberlin. Sein Ziel: in der französischen Fremdenlegion zu dienen. Doch nach einer Odyssee vom Westberliner Aufnahmelager Marienfelde über das Lager Sandbostel bei Bremen und einer Stippvisite beim Bruder des Vaters in München erreicht er Marseille, wo allerdings seine Hoffnung, als Legionär zu dienen, wie eine Seifenblase zerplatzt. Doch als Glückskind, wie er von seiner Mutter genannt wurde, hat er Fortuna dann doch wieder auf seiner Seite: Er lernt einen Antiquar kennen, der einst einer studentischen Widerstandsgruppe angehörte und ihm zu einer Arbeit als Übersetzer verhilft. Konstantin wuchs dank der Leidenschaft seiner Mutter für Sprachen mehrsprachig auf. Doch den Jugendlichen zieht es zwei Jahre später wieder zurück in die DDR, wenngleich seine Rückkehr zeitgleich zum Mauerbau erschwert wird. Trotz der vergangenen Zeit, der Flucht in den Westen und des Versuches, ein eigenes Leben abseits der Familie und der Heimatstadt aufzubauen, bleibt der Makel, kann er das vergangene Tun und die Schuld seines Vaters nicht abschütteln. So bleibt ihm das Studium auf der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg verwehrt. Einzig und allein Freunde, seine Freundin und spätere Frau Beate und das Pädagogik-Studium helfen, über jene Rückschläge und schrecklichen Erfahrungen hinwegzukommen.
„Ich weiß, ich bekomme diesen Vater, dieses Erbe nicht los. Ich kann mich nicht frei machen, ich bin nicht frei. Seinetwegen. Seinetwegen habe ich keine Kinder, ich will es nicht. Ich hatte Angst, dass sich etwas fortsetzt. Ich wollte keine Kinder, weil ich Angst vor dem Bösen habe, vor den Geistern meines Vaters.“
Doch „Glückskind mit Vater“ kennt kein Happy End. Denn in diesem atmosphärisch dichten Erzählstrom, der Ernst und Melancholie, aber auch einen ganz eigenen, leisen Humor verbreitet, setzt Hein immer wieder Schockmomente, plötzliche Wendungen, die einen sehr berühren. Der Fokus liegt dabei hingegen nicht nur auf Konstantins Lebensetappen, die ihn herausfordern und prägen. Das Buch ist sowohl Entwicklungsroman als auch eine facettenreiche deutsch-deutsche Chronik, die mit der Sehnsucht nach der französischen Fremdenlegion wohl eines der weniger gängigen Themen aus der DDR-Geschichte erzählt. In der Öffentlichkeit bekannter sind die beängstigende Atmosphäre während der Verhöre durch Polizei und Staatssicherheit, das enge Geflecht zwischen Politik, Propaganda und Pädagogik, die der Held als Lehrer und späterer Schuldirektor in einer Kleinstadt im Havelland erfahren und auch erleiden muss.
Mit „Glückskind mit Vater“ ist Hein ein großer Wurf gelungen, der Leser mehrerer Generationen und verschiedener, west- wie ostdeutscher Lebensbiografien begeistern wird. Denn der Roman entwickelt einen ungeheuren Sog und löst gleichzeitig einen Gedankenstrom im Kopf aus. Die Biografie Konstantins und die zweier deutscher Staaten lassen einen während der Lektüre als auch danach nicht los. Gerade weil auch Hein in einem Hinweis zu Beginn auf reale Vorkommnisse und Personen als Vorlagen für seinen Roman verweist. Jene wunderbar fließende Prosa ohne Ecken und Kanten eignet sich darüber hinaus auch als Schullektüre. Denn über Konstantin und seine Lebensgeschichte lohnt es sich, oft und viel zu debattieren, um so auch gesellschaftlichen wie geschichtlichen Fragen nachzugehen.
Weitere Besprechungen: auf „aus.gelesen“,„Poesierausch“ und „Peter liest“.
Der Roman „Glückskind mit Vater“ von Christoph Hein erschien im Suhrkamp Verlag; 527 Seiten, 22,95 Euro
Wer ist Peter Fischler, der sich gegen Ende des Buchs zu Konstantin auf die Bank setzt?
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