„Den Beginn einer Metamorphose entschied man nicht, er wurde entschieden.“
Es gibt Länder, die sind hierzulande kaum im Bewusstsein verankert, sie sind nicht Teil einer inneren Landkarte – weil sie kein beliebtes Touristenziel sind und kaum in den Schlagzeilen der Medien auftauchen. Man weiß, dass es sie gibt, aber auf die simplen Fragen, wie die Hauptstadt heißt, welche anderen Staaten angrenzen oder welche Traditionen gepflegt werden, werden wohl viele nichtwissend mit den Schultern zucken. Kirgistan ist so ein weißer Fleck. In das zentralasiatische Land, das bis 1991 zur Sowjetunion gezählt hat, entführt die österreichische Autorin Daniela Emminger in ihrem Roman „Kafka mit Flügeln“, der nicht nur geografische Grenzen, sondern auch Genre-Grenzen aufhebt. Dies ist mein Beitrag zur Indiebookchallenge 2018-2019, in der es in den kommenden Tagen um das Thema Roadtrip geht.
Der Freund aus der Kindheit
Denn Sybille Specht macht sich auf den Weg. Warum auch nicht. Ihr Leben ist von Leere und Trauer bestimmt. Die renommierte Verhaltensbiologin aus Wien hat ihren geliebten Mann durch einen tragischen Unfall verloren, auch die Eltern sind verstorben. Was ihr geblieben sind, sind die Erinnerungen an eine besondere Freundschaft: zu Samat, dem Jungen mit sowohl österreichischen als auch kirgisischen Wurzeln. Sie waren unzertrennlich, nannten sich Dillemädchen und Kerbeljunge. Doch im Jahr 1989, als der Kalte Krieg sich dem Ende zuneigt, in Berlin die Mauer fällt, verschwindet Samat Hals über Kopf. Die an Sybille gerichteten Briefe, die er über Jahre hinweg schreibt, erreichen das Mädchen beziehungsweise die spätere junge Frau nicht, weil ihre Eltern sie ihr vorenthalten. Erst auf dem Sterbebett erzählt Sybilles Mutter von den Lebenszeichen, die Samat aus der Ferne gesendet hat.
Die Wissenschaftlerin sammelt ihre Kräfte, richtet ihren Fokus neu aus und lässt Wien zurück, das alte Leben, und reist nach Kirgistan. Der bereits jetzt vielfältige Roman über eine besondere Freundschaft, den weiteren Lebensweg sowie Verlust und Trauer erhält eine weitere Facette: Dank der Erlebnisse der Protagonistin und den Briefen Samats, die in die Geschichte eingebettet sind, wird das Buch zu einem Reisebericht, der viel über das Land erzählt. Über dessen Topografie, den Alltag, die Kultur. Man möchte sogleich den Koffer packen für eine eigene Auszeit, um die hohen Berge – Dschengisch Tschokusu ist mit mehr als 7400 Metern die höchste Erhebung des Landes – und die raue Landschaft selbst zu sehen, über einen Basar zu wandeln, in einer fast menschenlosen Gegenden in einer Jurte zu übernachten. All das erlebt Sybille, die jedoch auch Zeit braucht, um sich an das Klima und die Gepflogenheiten dieses für europäische Augen fremde Land zu gewöhnen. Nach einer Eingewöhnungszeit in der Hauptstadt Bischkek, in der sie auch neue Freundschaften schließt, begibt sie sich auf die von Samats teils auch bewusst gelegten Spuren, und lernt die Familie und Familiengeschichte ihres Freundes aus Kindertagen mit all ihren Tragödien kennen.
„Und es waren Verluste, die schließlich Platz für Neues schufen, wo früher Altes war. Auch wenn sie dabei mitunter ein apokalyptisches Bild wie nach einer Sintflut hinterließen. Es war notwendig. Denn erst auf innere Auslöschung und Dürre folgte wieder fruchtbares Chaos, in dem es sich weiterleben ließ.“
Je näher sie Samat, der als Schmetterlingskundler forscht, kommt, desto mehr erfährt sie über dessen bahnbrechendes Forschungsprojekt, das bereits die Aufmerksamkeit von Samats Vorgesetzten Petschkin sowie des berühmten Psychiaters Nikitin erregt hat, die allerdings ganz andere, vor allem unmoralische Ziele mit Hilfe Samats Forscherdrang verfolgen. Erneut wandelt sich dieser Roman – wie ein Schmetterling, der sich aus einem Ei über das Larven- und das Puppenstadium heranwächst. Er bekommt Züge eines Thrillers samt einer fesselnden, teils absonderlichen utopischen Idee, für die der Leser ein gewisses Quäntchen Fantasie mitbringen sollte. Samat forscht an der Verbindung zwischen dem Erbgut von Schmetterling und Mensch. Ein Experiment, das den rätselhaften Namen „psukh“ trägt, in dem die Probanden, zu denen Stars, Vermögende und Politiker mit durchaus bekannten Namen zählen, sich verwandeln.
Viele literarische Verweise
Zwei spezielle Motive ziehen sich durch den ganzen Roman: zum einen Franz Kafkas großes Werk „Die Verwandlung“. Denn Fragen zum Thema Identität und Verwandlung spielen in diesem vielschichtigen Buch eine große Rolle. Zum anderen wird gleich zu Beginn sowie mehrmals innerhalb der Handlung auf das berühmte Gedicht der amerikanischen Dichterin Elisabeth Bishop „One Art“ und dessen erste Zeile „The art of losing isn’t hart to master“ verwiesen. Doch das sind nicht die einzigen Zitate und literarischen Anspielungen. Zahlreiche große Namen der Literatur und Zeitgeschichte tauchen auf. Das Buch ist reich an Gedanken und Ideen und offenbart an mehreren Stellen einen essayhaften Charakter.
„Kafka mit Flügeln“ ist ein komplexer Roman über das Suchen und Finden, in dem der Leser wunderbar eintauchen und verschwinden kann – wegen einer faszinierenden Kulisse sowie einer turbulenten und unglaublichen Geschichte. Das Werk ist berührend, erhellend, nachdenklich stimmend, ab und an zugleich erheiternd und sorgt im Verlauf der Handlung immer wieder mit einem besonderen Ort oder einer speziellen Person für eine Überraschung. Mit Sybille, die später den Namen Semiz erhalten soll, und Samat hat Emminger, die für ihre Novelle „Gemischter Satz“ (2016, Czernin Verlag) auf der Shortlist des Österreichischen Buchpreises gestanden hat, zwei außergewöhnliche Helden geschaffen. Zudem ist dem Werk deutlich anzumerken, welche aufwendige Recherche-Arbeit vonnöten war; zu den Orten des Geschehens, zum wissenschaftlichen Hintergrund. Das Ende richtet schließlich eine Botschaft an die Welt – mit Blick auf die Entwicklung auf dem Gebiet der Gen-Forschung. Da heißt es an einer Stelle: „Und wenn überhaupt, sollte einen doch einzig und allein das Leben verändern. Und nicht umgekehrt, wir das Leben.“
Die Indiebookchallenge soll die Freude und Neugierde wecken, Bücher aus kleinen und unabhängigen Verlagen zu entdecken und zu lesen. Jede Woche steht unter einem speziellen Motto: vom 18. bis zum 25. August heißt es „Roadtrip“. Welche Bücher könnt Ihr dazu empfehlen? Via Instagram werde ich in den kommenden Tagen den einen oder anderen Titel vorstellen.
Daniela Emminger: „Kafka mit Flügeln“, erschien Czernin Verlag, 496 Seiten, 19,99 Euro
Foto: pixabay
Das wunderbare Bishop-Gedicht!!! Ich liebe es. In Kürze kommt endlich eine Übertragung ins Deutsche als zweisprachiger Band bei Hanser. Und es gibt den tollen Film „Die Poetin“ über ihre Zeit in Brasilien: https://literaturleuchtet.wordpress.com/2017/04/06/film-kunst-film-die-poetin-dvd-film-von-bruno-barreto-2014/
Liebe Grüße!
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Vielen Dank, Marina, für Deinen Kommentar, vor allem den interessanten Hinweis. Den werde ich mir mal anschauen. Viele Grüße
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Besten Dank für diesen verlockenden Hinweis in einen ganz anderen Winkel der Büchergalaxie.
Viele Grüße!
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