Dagny Juel – „Flügel in Flammen“

„In der Seele großem dunklem Saal (…).“

Dagny Juel – Autorin, Femme fatale, Ehefrau, Mutter zweier Kinder. Viele Rollen hat die 1867 in Kongsvinger geborene Norwegerin in ihrem kurzen, durch einen tragischen Todesfall endenden Leben übernommen. Ihr Wirken und Schaffen als schreibend schöpferische Frau hat indes bis vor kurzem hinter ihrer Bedeutung in der berühmten skandinavisch-slawischen Berliner Boheme im ausgehenden 19. Jahrhundert gestanden. Nun versammelt der Band „Flügel in Flammen“ erstmals ihre gesammelten Werke in deutscher Übertragung und gibt auch dank eines Essays des Filmemachers und Autors Lars Brandt Einblicke in das Leben einer faszinierenden Persönlichkeit.

Schmal, aber vielfältiges Werk

Und er weckt besondere Überlegungen: Was hätte Dagny Juel noch schreiben können, hätte nicht eine Kugel aus der Waffe des Polen Władysław Emeryk ihrem Erdendasein im Alter von nur 33 Jahren im georgischen Tiflis ein Ende gesetzt? Welchen literarischen Rang hätte sie eingenommen, hätte sie einen Mentor, eine literarische Leit- und Lichtgestalt an ihrer Seite gehabt? Doch diese Fragen im Konjunktiv können die Vergangenheit nicht korrigieren. Uns bleibt nur ein Blick auf ihr Werk, das ob ihres kurzen Lebens und anderer Umstände, die später noch erwähnt werden, schmal und überschaubar geblieben ist, aber in der Auswahl der literarischen Gattungen vielfältig erscheint. Der im Weidle Verlag erschienene Band versammelt fünf prosahafte Miniaturen, vier Dramen sowie 14 Gedichte. Ein Thema, eine ganz spezielle Stimmung durchzieht nahezu all ihre Werke: Es geht um Liebe und Leidenschaft, Beziehungen und Abhängigkeiten, Gefühle in all ihren Variationen, die meist zu einem tragischen Ende führen. Gedanken und die Auseinandersetzung mit Vergänglichkeit, innerlichem Schmerz und Tod bestimmen ebenfalls die meist düstere Atmosphäre.

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Vor allem die vier Dramen, kurze Kammerstücke mit nur wenigen handelnden Personen, sind psychologisch ungemein aufgeladen, faszinieren durch ihre intensiven Einblicke in das Seelenleben der Charaktere. Meist wird in der nur wenige Szenen umfassenden Handlung von einer Dreiecksgeschichte erzählt, die in einer sehr kurzen Zeit schließlich zu einem tragischen Ausgang, ja zu einer todbringenden Begierde führt. Oft klopft die Vergangenheit an die Tür und stellt die gewohnte Ordnung der Beziehungen auf den Kopf. Die weiblichen Personen, auf die der Fokus gerichtet wird, erleben eine höchst emotionale Zeit der Unruhe, Verwirrung und gefühlten Ausweglosigkeit. Wie viele eigene Gedanken und Gefühle hat Dagny Juel wohl darin verarbeitet? Denn ihre Beziehung zu dem polnischen Schriftsteller und Satanisten Stanisław Przybyszewski (1886 – 1927) ist nur in den Anfangsjahren wirklich harmonisch. Mit der Zeit leidet sie – unter den Affären ihres Mannes, unter dessen Desinteresse, unter seinem herabwürdigenden Verhalten.

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Foto aus dem Jahr 1894. (Wikipedia, gemeinfrei)

Dass die Norwegerin, die in guten bürgerlichen Verhältnissen, aus einem ehemaligen dänischen Adelsgeschlecht stammend aufgewachsen ist, sogar eine umfassende Ausbildung zur Pianistin erfahren durfte, nur wenige literarische Werke hinterlassen hat, könnte auch diesem Umstand geschuldet sein. Sowohl das Interesse ihres Mannes als auch das der Künstler der Berliner Boheme scheint gering gewesen zu sein. Doch auch ihr eigenes Selbstvertrauen in ihr Schreiben, ihre Kraft und das Bewusstsein, hinter ihrem Werk stehen zu müssen, war wohl nicht ausreichend, wie Lars Brandt, Sohn des früheren Bundeskanzlers Willy Brandt sowie Bruder des Schauspielers Matthias Brandt und des Historikers Peter Brandt, in seinem Essay schreibt.

„Und schau, schau: meiner Seele große, bunte Vögel! Sie möchten so gerne zu einem anderen Stern fliegen, dorthin, wo der Raum keine Grenzen hat … aber sie sitzen so fest an ihrem Stengel, sie sind so an die Erde gefesselt, und sie leiden.“ (Aus: „Ravnegård“)

Brandts Text nimmt dabei nahezu die Hälfte vom Umfang des Bandes ein, der auf die norwegische Ausgabe der gesammelten Werke Dagny Juels, 1996 im Kulturverlag Brak veröffentlicht, zurückgeht. In all den zurückliegenden Jahrzehnten seit dem Tod der Autorin lag die Erinnerung an ihr Leben und Wirken in einem fast 100-jährigen Dornröschenschlaf – sogar im Heimatland Juels; sind jedoch einige Texte erst im vergangenen Jahrhundert ans Tageslicht gekommen. Dabei erscheint nicht nur ihr aktives Schaffen als Autorin spannend. Sie zählte zu den herausragendsten Persönlichkeiten und war wenn nicht sogar die bedeutendste weibliche Gestalt innerhalb des schillernden Kreises, der sich in Berlin zusammengefunden hat, sich regelmäßig im Lokal „Zum schwarzen Ferkel“ traf und berühmte Namen der künstlerisch-literarischen Szene wie Richard Dehmel, Holger Drachmann, August Strindberg und Edvard Munch vereinte. Die beiden Letztgenannten hatten dabei ein besonderes Verhältnis zu ihr: Munch malte sie – so ist sie unter anderem auf dem Gemälde „Der Tag danach“ zu sehen -, Strindberg liebte und hasste sie später, weil er vermutlich kaum eine Chance hatte, sie zu erobern. Sie – die als reizende, trinkfeste wie tollkühne Frau beschrieben wird. Auch ihr Wirken auf die bekannte und legendäre Zeitschrift „Pan“ erwähnt Brandt in seinem Essay, der die Texte Juels als symbolisch-expressiv und fern einer realistischen Darstellung bezeichnet und auf Juels „poetische Substanz in ihrer Präsenz“ hinweist.

Eigene literarische Stimme

Vermögen Künstlerkreise mit ihren bekannten Mitgliedern und ihrem weit verzweigten Beziehungsgeflecht allgemein an sich spannende Geschichten zu schreiben, kommt im Fall der Berliner Boheme noch die besondere Zeit hinzu, die laut Brandt geprägt war von Zerrissenheit und geistigen Umbrüchen. Dazu hat der Schriftsteller und Filmemacher vielseitig recherchiert. Im Band gibt es ein zweieinhalbseitiges Literaturverzeichnis. Er selbst meinte während einer Pressekonferenz zur diesjährigen Leipziger Buchmesse, die für den Gastland-Auftritt Norwegens zur Frankfurter Buchmesse die Werbetrommel rühren sollte: „Es lohnt sich, sich mit ihr zu beschäftigen. Sie ist eine ganz eigene literarische Stimme.“ Hoffentlich über die kommende Buchmesse hinaus, bleibt der Wunsch, dass ihr Leben und Schaffen vielleicht in einer Biografie umfassender beleuchtet werden würde. Denn eines wird bereits bei der Lektüre des Bandes klar: Eine Frau konnte in jener Zeit vermutlich nur mit ihrem Körper und ihrem Charme Geltung erlangen. Ihr kreatives Wirken in einem von Männer dominierten Künstlerkreis fand wenig, bis keine Beachtung. Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern, wohl aber Gegenwart und Zukunft. Auch dank dieser Ausgabe, die anknüpft an die Veröffentlichung des im Herbst 2017 erschienenen Romans „Dagny oder Ein Fest der Liebe“ des georgischen Schriftstellers Zurab Karumidze und für die jeder Freund der norwegischen Literatur dankbar sein sollte.


Dagny Juel: „Flügel in Flammen. Gesammelte Werke“, erschienen im Weidle Verlag, aus dem Norwegischen und mit einem Essay von Lars Brandt; 176 Seiten, 20 Euro

Bild von soyshakiromanico auf Pixabay

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