Familienmensch?! – Karl Ove Knausgård "Lieben"

„Nichts anderes war gut genug, nichts anderes ging. Nur dorthin, zum Wesentlichen, zum innersten Kern menschlicher Existenz würde ich mich bewegen.“ 

Das Leben zieht seine Bahn, füllt den Alltag mit Menschen und Dingen, Begegnungen und Erlebnissen. Nach dem ersten Kind folgt das zweite. Die Stadt wird verlassen, um in eine andere zu ziehen. Freundschaften verstärken sich oder werden gebrochen. Auch wenn dieser Lauf für viele bekannt erscheint, nichts Spannenderes zum Erzählen gibt es. Einer beweist es: der Norweger Karl Ove Knausgård. Sein auf sechs Bände angelegtes Romanprojekt „Min kamp“ feiert Erfolge – nicht nur in seinem nordischen Heimatland. Mittlerweile soll das Virus auch den Rest Europas und Teile Amerikas befallen haben. Nach dem ersten Band „Sterben“, wo der Autor vor allem den Tod seines alkoholabhängigen Vaters in den Mittelpunkt stellt, ist vor einiger Zeit der zweite Band „Lieben“ als Taschenbuch erschienen. „Familienmensch?! – Karl Ove Knausgård "Lieben"“ weiterlesen

Kreuzende Lebenswege – Nicolas Dickner "Nikolski"

„Jede Sekunde, jeder Augenblick vollzog sich zum ersten und zum letzten Mal. Es war unmöglich, diesen Prozess zu unterbrechen, umzukehren oder eine Sicherheitskopie davon zu erstellen.“

Die Welt ist voller Bücher und voller Überraschungen. Manchmal kommt auch beides zusammen, überrascht ein Buch oder es gibt eine Überraschung mit einem besonderen Buch. Als ich in einer Bücherkiste in einem Freibad nach dem Roman „Nikolski“ von Nicolas Dickner griff und ihn wenig später auch las, erlebte ich nicht nur schöne Lesestunden, sondern auch eine wunderbare Überraschung. Der Name des Autors sagte mir bis dato nichts. Der Klappentext verhieß, dass es sich um einen Bestseller aus Kanada handelte. Nun gut, ab und an sollte man den Versprechungen der Verlage nicht unbedingt vertrauen. Aber in diesem Fall schon. „Kreuzende Lebenswege – Nicolas Dickner "Nikolski"“ weiterlesen

Flucht – Antonio Muñoz Molina "Die Nacht der Erinnerungen"

„Begeisterung und Panik wogten wie parallele Welten durch die Hitze der Nacht, in einem Fieber von Karneval und Katastrophe.“

Das Chaos zerreißt sein bisheriges Leben. Ignacio Abel, ein anerkannter Architekt und Bauhaus-Schüler, sieht sich 1936 an einem Abgrund stehen. Der Krieg hat Spanien erfasst. Die Hauptstadt Madrid wird Schauplatz des Klassenkampfes, die Gewaltspirale dreht sich und fordert unzählige Opfer. Männer, Frauen und Kinder, die durch Bomben, Straßenkämpfe und Hinrichtungen getötet werden. Mittendrin Ignacio auf der Suche nach seiner Geliebten Judith, die er ein Jahr zuvor kennengelernt hatte. Die Amerikanerin ist spurlos verschwunden, nachdem Ignacios Frau Adela dessen heimliche Beziehung entdeckte hatte und nachfolgend einen Selbstmord verübte, den sie indes überlebte. Mit den zwei Kindern zieht sich Adela in das Wochenend-Haus in den Bergen zurück. Nicht nur die erkaltete Beziehung des Paares auch Adelas Freitod-Versuch und das kritische Verhältnis zwischen ihren Eltern und ihrem Bruder Victor zu Ignacio belastet diese Ehe. „Flucht – Antonio Muñoz Molina "Die Nacht der Erinnerungen"“ weiterlesen

Leben als Roman – Karl Ove Knausgård "Sterben"

„Der Tag kam immer mit mehr als bloßem Licht. So nieder- geschlagen man auch sein mochte, es war unmöglich, völlig unbeeindruckt davon zu bleiben, was er an Anfängen brachte.“

Das Leben als Roman, leben, lieben, leiden als Inhalt?! Es braucht keine Fiktion, kein Fantasie, um herausragende Literatur zu schreiben. Wer „Sterben“ des Norwegers Karl Ove Knausgård liest, wird beide vorherige Sätze ohne Zögern zustimmen können. Der Autor hat in seinem Heimatland mit seinem auf sechs Büchern angelegten autobiografischen Romanprojekt für Furore gesorgt und selbst für ein Vielleser-Land wie Norwegen traumhafte Verkaufszahlen erreicht. In Deutschland wird im Juni nach den Bänden „Sterben“, „Lieben“ und „Spielen“ der vierte mit dem Titel „Leben“ erscheinen. In Norwegen heißt das umfassende Werk „Min Kamp“ („Mein Kampf“), ein Titel den man hierzulande aus bekannten Gründen aus dem Weg geht. „Leben als Roman – Karl Ove Knausgård "Sterben"“ weiterlesen

360 Grad – Elliot Perlman "Sieben Seiten der Wahrheit"

„Emotional leben wir in der Dunkelheit unserer eigenen Schatten. Wir frieren immerzu und meistens wissen wir nicht warum.“ 

Simon hat nichts mehr zu verlieren,  als er einen folgenschweren Plan fasst. Den Job als Grundschullehrer los, seit neun Jahren von der großen Liebe Anna weit entfernt, entführt Simon Annas kleinen Sohn Sam. Die Polizei kommt dem Entführer jedoch schnell auf die Schliche, da er von seiner Freundin Angel verraten wird. Simon sitzt bald hinter Gittern. Die Presse dichtet ihm weitere Entführungen und noch schlimmere Verbrechen an, auch jenen Fall des verschwundenen Jungen Carlo, den Simon als Lehrer in Obut hatte. Simon wird schließlich der Prozess gemacht, und eigentlich wäre die Geschichte mit dem Gerichtsurteil schnell erzählt gewesen.

Wenn nicht der Roman „Sieben Seiten Wahrheit“ des Australiers Elliot Perlman mehr als 850 Seiten hätte und die gefüllt werden müssten. Doch wie die Geschichte von Simon dem Leser berichtet wird, ist ein stilistischer Geniestreich. Wie es der Titel des Buches schon ahnen lässt, blicken sieben Menschen zurück und erzählen das Geschehen aus ihrer persönlichen Sicht: neben dem engagierten Grundschullehrer Simon sind das dessen Psychiater Alex Klima, Angela und Anna, deren Mann Joe, dessen Kollege Mitch sowie die Tochter des Psychiaters, die Jahre nach dem Vorfall eine Beziehung zu Sam führt. Beide studieren an ein und derselben Uni. Sowohl der Vor- und der Nachteil dieser besonderen Erzählweise liegen dabei klar auf der Hand: Das Geschehen wird von mehreren Seiten reflektiert, nahezu aus 360 Grad beleuchtet. Die Personen und ihre Intentionen erscheinen plastischer. Das Geschehen setzt sich für den Leser mit jedem Detail der erzählenden Personen wie ein großes farbiges Puzzle zusammen, bei dem jede Einzelheit deutlich wird. Darin liegt eine Faszination und Erzählkraft, der man schnell erliegt. Da nimmt man schnell in Kauf, wenn Redundanzen entstehen, einiges der Handlung mehrfach erzählt wird. Die Story nimmt trotzdem ihren Lauf und konzentriert sich weniger auf die Straftat, als die Personen, die damit direkt oder indirekt zu tun haben.

Perlman, 1964 in Melbourne geboren, erhält damit auch die Möglichkeit, die Handlung nicht nur auf die Tat und den Gerichtsprozess zu konzentrieren. An vielen Stellen webt er die Geschichten der Personen ein, ihr Leben, ihren Beruf, ihre Stärken und Schwächen, ihr „Schicksal“: So verlieren Mitch und Joe nach einem heiklen Geschäft ihren Job und jegliche berufliche Perspektive, erkrankt Angel an Multilpler Sklerose. Alex Klima wird selbst ein Fall für den Psychiater. Und es sind die großen Themen, die Perlman hineinarbeitet und dieses Buch zu einem weisen, sehr berührenden Roman und ein Stück großer Literatur werden lässt: So wendet sich die Kritik des Buches an die skrupellose Gier von Wirtschaftsunternehmen, die selbst im Gesundheitssystem Profit schlagen wollen, an die Medien, die mit ihrer Hetze den Ruf eines Angeklagten komplett zerstören, ohne Fakten und Beweise auf den Tisch legen zu können. Ebenso lässt Perlman an den Holocaust und das spätere Leid, das der Stalinismus über Osteuropa bringt, erinnern.

Und ein Thema, das immer wieder durchscheint, ist natürlich die Literatur und die Liebe zur Literatur. Denn Basis dieses Romans ist das gleichnamige Werk des britischen Dichters und Literaturkritikers William Empson. In „Seven Types of Ambiguity“ beschreibt Empson  die Mehrdeutigkeit von Poesie. Simon, verliebt in Literatur und Bücher, verehrt Empson und kennt seine Thesen aus dem Effeff. Und nicht nur deshalb wandelt sich das Bild, das der Leser von dieser Hauptfigur erhält: von dem Bild eines Entführers hin zu einem mehr als sensiblen und intelligenten Menschen, der den kleinen Sam eigentlich nur helfen wollte, wie all jenen „Stillen, die sich immer noch nicht daran gewöhnt hatten, auf der Welt zu sein.“

„Sieben Seiten der Wahrheit“ von Elliot Perlman erschien im btb-Verlag, mit der Übersetzung aus dem Englischen von Matthias Jendis.
880 Seiten, 12 Euro