„Da lag das Boot, der Renommierkahn, das Prachtschiff, seine Tollheit.“
Neun Meter lang, zweieinhalb Meter breit. Eine kleine fahrende Insel zwischen Himmel und Wasser, in Bewegung versetzt dank der Kraft des Windes. Drache nennt sich das Segelboot, das Almut von ihrem Vater übernimmt. Was zuerst eine finanzielle wie seelische Last ist, wird später zu einem Sehnsuchtsort, an den sie in ihren Erinnerungen und Gedanken immer wieder zurückkehrt. Da ist sie bereits in Mailand, Tausende Kilometer von jenem brandenburgischen See entfernt, auf dem sie mit Freunden oder allein auf dem Drachen ihre Bahnen zog. Mit einer Neuausgabe holt der Ecco Verlag den einstigen DDR-Bestseller „Die Alleinseglerin“ von Christine Wolter aus der literarischen Versenkung. Eine großartige Wiederentdeckung aus vielerlei Gründen.
Pendeln zwischen Norden und Süden
Denn diese Neuausgabe erzählt gleich zwei Geschichten – die eigentliche des Romans und die seiner Veröffentlichung. 1982 erschien „Die Alleinseglerin“ in der DDR im Aufbau Verlag, wobei der Gedanke erlaubt sein darf, wie es dem Buch mit seinen auch teils systemkritischen Zügen gelang, sich durch die Zensur zu mogeln. Nicht nur schildert die Ich-Erzählerin des Romans von der Mangelwirtschaft, ihren Schwierigkeiten an Material zu kommen, um das Boot in Schuss zu halten. Sie pendelt zwischen zwei Polen – dem Norden und dem Süden, wohin sie schließlich gelangt ist. Von Mailand – dem „imperialistischen Westen“ – aus gehen ihre Gedanken zurück in die Zeit, als sie das Segeln lernte und später sich aufopferungsvoll um das Boot ihres Vaters kümmerte. In Mailand ist Februar, die Tage sind trüb und regnerisch. Aus dem Fenster schauend geht ihr Blick weiter – in Zeit und Raum.
Ein Blick in die Biografie erklärt indes so einiges, denn „Die Alleinseglerin“ trägt autobiografische Züge. Manches aus dem Leben der Autorin, Herausgeberin und Übersetzerin findet sich in dem Roman wieder: allen voran ihr Studium und ihre spätere Arbeit, ihr Vater Hanns und letztlich auch ihr südlicher Lebensort, für den Wolter 1978 die DDR verließ und nach Italien übersiedelte. Ihr Vater ist kein Geringerer als der Architekt Hanns Hopp (1890-1971), der unter anderem an der Hochschule für Werkskunst in Dresden und an der Bauakademie der DDR in Berlin lehrte und zu dessen bekanntesten Projekten die Planung der Stalinallee, heute Karl-Marx-Allee, in Berlin zählte. Die Familie war 1944 aus Ostpreußen – die Autorin wurde 1939 in Königsberg geboren – geflohen und kam über Radebeul und Halle/Saale schließlich nach Berlin. Wolter studierte Romanistik an der Berliner Humboldt-Universität und war von 1962 bis 1976 Lektorin im Aufbau Verlag. Erste Prosa-Texte erschienen in den 70er-Jahren. Darüber hinaus übersetzte sie aus dem Italienischen und gab Werke italienischer Autoren heraus.
Alleinerziehende Mutter
Mit „Die Alleinseglerin“ wurde sie 1982 bekannt. Ihr Roman wurde ein Bestseller, der wenige Jahre später auch von der Defa unter der Regie von Herrmann Zschoche und mit Christina Powileit in der Hauptrolle verfilmt wurde. Dass er heute noch gelesen werden kann und sollte, liegt auch an seiner Allgemeingültigkeit, erzählt er doch die Geschichte einer Frau, die trotz aller Widrigkeiten ihren Weg findet und unermüdlich geht. Almut ist alleinerziehend, das Geld ist knapp, als sie den Drachen übernimmt. Mit allem, was dazu gehört. Denn ein Segelboot will nicht nur gefahren werden, sondern braucht auch eine umfangreiche Pflege, die Material, Kraft und Zeit kostet. Almut lässt sich weder von diesen Anstrengungen noch von den abfälligen Kommentaren der Männer, die das Segeln als Männersache ansehen und die junge Frau misstrauisch beäugen, abhalten.
Jedes Wochenende zieht es sie aus der Stadt zum See, zum Boot. Selbst als sie Kaufangebote erhält, entscheidet sie sich dagegen, den Drachen zu verkaufen. Der mehr ist als nur ein geerbtes Boot: Er ist ein Ort voller Erinnerungen – an Freunde und Partner, die ersten Jahre mit ihrem Sohn, an Vater Hanns, zu dem sie widersprüchliche Gefühle hegt. Er ist ihr allzu fern, eine Art Überfigur, zu der sie aufblickt, denn sie im Roman mit „er“ oder „Professor“ anspricht, oft auch direkt trotz oder auch wegen seiner Abwesenheit. Dessen Namen sie allerdings auch an ihren Sohn weitergibt.
„Die Erfahrungen wiederholten sich. Aber vielleicht hatte jeder gelebte Augenblick eine Vorgeschichte, kam von weither, aus früheren Zeiten des eigenen Lebens, war vorbereitet und gewachsen.“
Wolter lässt den Leser auch teilhaben an dieser besonderen Welt der Segler. Zahlreiche Fachbegriffe finden sich in ihrem Roman. Mit den Beschreibungen der Landschaft, der Stimmung und der Elemente wie Wind und Wasser wird der Leser geradezu mit aufs Boot genommen, das auch die Menschen verbinden kann. Denn Almut ist bei ihren kraftraubenden Reparaturen, die aufgrund der Mangelwirtschaft Spontanität und Improvisierkunst verlangen, nicht immer allein, sondern hat Mitstreiter wie Kutte, Maurer, Nachbar und Familienvater. Schließlich ist sie angekommen, ist der Drache nicht mehr nur ein Anhängsel, sondern verhilft ihr zu einer bestimmten Lebensart und zu Freiheit.
Dem Ecco Verlag gebührt für diese Wiederentdeckung Dank – verbunden mit der Hoffnung, dass mehr als 30 Jahre nach der Wende die DDR-Literatur nicht vergessen wird und weitere Schätze aus dem „Osten“ den Weg in die Verlagsprogramme finden. Auch über die großen Namen wie Christa Wolf und Brigitte Reimann sowie die Rückkehr so mancher Kinderliteratur-Klassiker wie beispielsweise „Alfons Zitterbacke“ von Gerhard Holtz-Baumert hinaus.
Christine Wolter: „Die Alleinseglerin“, erschienen im Ecco Verlag in einer Neuausgabe, 208 Seiten, 22 Euro