Álvaro Enrigue – „Jetzt ergebe ich mich, und das ist alles“

„Die Apachen besaßen nichts, und sie selbst nannten sich ndee, Menschen, Volk, Stamm.“ 

Selbst ohne viel Wissen über die Geschichte Nordamerikas und dessen Ureinwohner gibt es Namen, die wohl jeder kennt. Geronimo (1829 – 1909), eigentlich Gokhlayeh oder Goyathlay, gilt als eine der angesehensten historischen Persönlichkeiten. Als Kriegshäuptling und Schamane der Apachen leistete er gegen die Besetzung seines Stammeslandes sowohl gegen mexikanische als auch US-amerikanische Truppen erbittert Widerstand, um sich allerdings nach jahrelangen Kämpfen 1886 mit seinen nur noch wenigen Stammesangehörigen zu ergeben und bis an sein Lebensende in verschiedenen Forts gefangen gehalten zu werden. Bei seiner Festnahme soll er gesagt haben: „Einst war ich frei wie der Wind, jetzt ergebe ich mich … und das ist alles.“ Nach diesem berühmten Zitat hat der mexikanische Schriftsteller Álvaro Enrigue seinen Roman genannt, der nicht nur über die leidvolle Geschichte der Apachen berichtet. Er verbindet auf einzigartige Weise die Vergangenheit mit der Gegenwart der USA.

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Richard Wagamese – „Das weite Herz des Landes“

„Sein Leben war auf die Geschichten verschwommener Geister gebaut.“

Die Gastland-Auftritte auf den Buchmessen Frankfurt und Leipzig ermöglichen es uns, in die Literatur eines Landes einzutauchen, bekannte wie unbekannte Autoren und ihre Werke kennen- und schätzen zu lernen. Das nordamerikanische Land Kanada wird coronabedingt nach der diesjährigen Frankfurter Online-Ausgabe im kommenden Jahr in der Main-Metropole erneut im Mittelpunkt stehen; hoffentlich in voller Präsenz mit vielen Gästen. Wer an Kanada, den zweitgrößten Staat der Erde, denkt, wird wohl atemberaubende Landschaften und menschenleere Wildnis vor Augen haben, die auch die Kulisse des großen Romans „Das weite Herz des Landes“ des Kanadiers Richard Wagamese bilden. „Richard Wagamese – „Das weite Herz des Landes““ weiterlesen

Fluchtwege – Gerhard Jäger „Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod“

„Haben alle keine Ahnung, kennen nichts anderes als diese Berge, die einem Tag und Nacht, die Sicht verstellen. Ein Leben lang (…).“

Winter. Kälte, Eis und Schnee. Viel Schnee. Eine Menge, die rasend schnell von den Hängen des Berges den Weg ins Tal sucht, auf ihrem Weg alles und jeden unter sich begräbt und auslöscht, der Mensch trotz seiner vermeintlichen Stärke hilflos wirkt. So wird es gewesen sein, in jenem Januar 1951 in einem Tiroler Dorf. Zeit und Ort mit realem Hintergrund – der sogenannte Lawinenwinter in den Alpen hat damals vor mehr als 65 Jahren für Schlagzeilen gesorgt – setzt der Österreicher Gerhard Jäger in den Mittelpunkt seines Debüts, dessen langer Titel „Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod“ schon vieles verrät, aber eben noch nicht alles.

Die vier Worte fassen nicht nur die markantesten Ereignisse rund um den Aufenthalt des 25-jährigen Historikers Max Schreiber zusammen, der im Herbst 1950 in ein Tiroler Bergdorf kommt, um für ein Buch mehr über die historische Geschichte der Katharina Schwarzmann, einer vermeintlichen Hexe, die in ihrem Haus bei lebendigem Leib verbrannt war, zu erfahren. Diese vier Worte benennen auch die Gemeinsamkeiten zwischen jenen Geschehnissen in der Mitte des vorigen Jahrhunderts sowie der Rahmenhandlung, die einen zweiten Erzählstrang des Romans bildet. Darin wird von dem Amerikaner John Miller berichtet, der sich 2006, wenige Jahre nach dem tragischen Tod seiner geliebten Frau Rosalind, auf die lange Reise nach Europa begibt, um im Landesarchiv Innsbruck die Geschichte seines Cousins, eben jenes Max Schreibers, nachzurecherchieren, vor allem dessen Schuld zu widerlegen. Worin diese Schuld liegt, wird erst am Ende des Romans erzählt; wenn auch diese Wendung nicht so überraschend wirkt. Intensiv beschäftigt sich der 80-jährige Amerikaner mit den Niederschriften Schreibers und besucht gar jenen Ort, an dem die Lawinenkatastrophe sowie zeitgleich eine verzwickte Dreiecks-Geschichte zwischen Max, der jungen und stummen Frau Maria und dem alteingesessenen Georg Kühbauer für angespannte Stimmung unter den Einwohnern sorgen.

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Dabei trat nach den ersten Wochen, in denen sich der Wiener promovierte Historiker an dem abgeschiedenen Ort hoch oben in den Bergen und vor allem an die oft merkwürdigen Verhaltensweisen der kauzigen Einwohner gewöhnt hatte, eine spürbare Harmonie ein – trotz der Skepsis und der Feindseligkeit, die Schreiber als Großstadtmensch und Gebildeter zu Beginn entgegengeschlagen waren. Nachdem er in den ersten Wintertagen und nach dem ersten Schnee den Einwohnern unter die Arme greift, so auch Georg Kühbauer und dessen Bruder Hans unterstützt, wird der Fremde, der zuvor von seiner Freundin verlassen wurde, in die Gemeinschaft aufgenommen. Doch das Blatt wendet sich wieder, als sowohl Georg als auch Max erfahren, dass der jeweils andere für die stumme Maria nicht unwesentliche Gefühle hegt und sich die Bewohner zudem auf die Seite Georgs stellen.

Dann kommen die Lawinen und bringen den Tod. Das ganze Dorf ist in Gefahr. Nach den ersten Opfern werden die Einwohner des Oberdorfs in das Unterdorf gebracht. In der Kirche und im Pfarrhaus treffen auf engstem Raum die Lebenden auf die Toten, wird der Rosenkranz gebetet. Hilfsaktionen, um die Tiere zu versorgen oder weitere Menschen in Sicherheit zu bringen, werden unternommen. Das sonst so idyllische Dorf wird zu einem beklemmenden und gefährlichen Ort, in dem jeder, ob Kind, Erwachsener oder Greis, um sein Leben bangt. Diese Szenen sind die stärksten des Buches, denn Jäger gelingt es, trotz des Verharrens an jenem Ort, der wie erstarrt unter einer Glocke zu liegen scheint, eine atemlose Spannung aufzubauen und zu halten. Vor allem auch deswegen, weil er das Innenleben der Protagonisten, ihre Gefühle, ihre Zweifel, ihre Ängste mit seiner eigenwilligen Sprache ausleuchtet. Die stetigen Wortwiederholungen, Mantras gleich, sind in diesem Buch nicht Ausdruck der Überambitioniertheit des Autors. Sie erschaffen erst jene eindrücklichen Bilder, jene markanten Personen und ihre Geschichten und Schicksale, die Jäger strategisch klug nach und nach als kostbare Trümpfe ausspielt. Sei es eben die Geschichte jener Hexe, die Herkunft des alten Seilers, der viele Geschichten zu erzählen weiß, oder die Vorliebe von Millers Frau Rosalind für die Indianer. Mythische Geschichten, so Sagen oder das merkwürdige Orakel der alten Gertraudi, spielen eine nicht unwesentliche Rolle.  Auch die Landschaftsbeschreibungen beeindrucken.

„Wir  sind gewöhnt, dass es immer weitergeht, und können überhaupt nichts damit anfangen, wenn man mit den frisch duftenden Brötchen auf dem Nebensitz in die eigene Straße zurückfährt und merkt, dass etwas nicht stimmt, nein, dass vieles nicht stimmt (….).“

„Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod“ ist das Buch schlechthin für den Winter, das ein intensives, ja magisches Leseerlebnis bietet. Nur ein Wunsch bleibt unerfüllt: Dass die Geschehnisse, in dem Miller den Ort nach vielen Jahren wieder aufsucht, mehr Seiten und Raum bekämen. Denn in diesen Szenen zeigt sich der starke, jedoch auch faszinierende Kontrast zwischen einem Tiroler Ort damals und heute. Der Tourismus hat vieles verändert. Als Schreiber einst mit dem Bus die einzige und enge Straße zwischen Tal und Dorf hinauffuhr, war er der einzige Fahrgast, später der einzige Gast, der sich in das noch leere Gästebuch des Gasthauses einschreibt. Aber auch ohne dieses Mehr an Umfang bleibt der Roman ein großer Wurf, ein wunderbares Werk, das Respekt verlangt, vor allem wenn man weiß, dass dieses Buch ein Debüt ist.

Weitere Besprechungen nachzulesen auf dem Blog „Kaffeehaussitzer“ und „Bücherwurmloch“.

 


Gerhard Jäger: „Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod“, erschienen im Blessing Verlag; 400 Seiten, 22,99 Euro

Foto: pixabay

Stories – Boris Fishman „Der Biograf von Brooklyn“

„Es hat diese Stille. Diese schreckliche russische Stille, die die Amerikaner nicht begreifen. Sie machen ständig Lärm, weil sie vergessen wollen, dass das Leben irgendwann zu Ende ist. Wir vergessen das nie, deswegen haben wir diese Stille, auch wenn wir schreien und lachen.“

Er hat seine jüdische und osteuropäische Herkunft in die entlegensten Bereiche seines Bewusstseins verbannt. Die Familie, die ihn an diese erinnern könnte, besucht er nur noch selten. New York bietet bekanntlich reichlich Platz, um die Distanz zwischen zwei Menschen zu vergrößern. Der Journalist Slava Gelman will leben wie ein Amerikaner, schreiben wie ein Amerikaner. Doch dann stirbt seine geliebte Großmutter Sofia und ein Brief der Konferenz für jüdische Schadenersatzansprüche gegen Deutschland bringt Turbulenzen in sein eher beschauliches Dasein, das Boris Fishman in seinem Debütroman „Der Biograf von Brooklyn“ erzählt.  „Stories – Boris Fishman „Der Biograf von Brooklyn““ weiterlesen

Nebel des Vergessens – Kazuo Ishiguro „Der begrabene Riese“

„Ein freundliches grünes Tal. Ein hübsches Gehölz im Frühling. Aber  fang an zu graben, und gleich unter den Margeriten und Butterblumen kommen die Toten zum Vorschein.“

In der Literatur scheint nicht nur das Thema Endzeit die Autoren derzeit viel zu beschäftigen. Heinz Helles „Eigentlich müssten wir tanzen“, Cormac McCarthys „Die Straße“, Emily St. John Mandels „Das Licht der letzten Tage“ oder Valerie Fritzschs „Winters Garten“ seien an dieser Stelle genannt. Mehr und mehr finden sich Leser auch bei der Lektüre von ernster Literatur in Märchen und fantastischen Geschichten wieder. David Mitchell und ja auch Haruki Murakami sind da beispielgebend. Mit „Der begrabene Riese“ legt der japanisch-englische Autor  und Gewinner des renommierten Booker-Prizes Kazuo Ishiguro nun seinen lang erwarteten neuen Roman vor, der  ein großes Thema in Form eines Märchens erzählt.  „Nebel des Vergessens – Kazuo Ishiguro „Der begrabene Riese““ weiterlesen