Backlist #21 Anne Berest – „Die Postkarte“

„Die Geister waren keine namenlosen Wesen mehr, keine Zahlen in irgendwelchen Geschichtsbüchern.“

Manchmal gibt es Zeiten, in denen besondere Erfahrungen aufeinandertreffen, die reale Erlebnisse mit Literatur und deren Lektüre verknüpfen. Es ist der 28. März, als ich mit mehr als 30 Schülern kurz vor 3 Uhr in Naumburg einen Bus besteige, der acht Stunden später und nach mehr als 700 Kilometern die südpolnische Stadt Oświęcim erreicht. Auschwitz – das ist der Ort, der heute als Symbol des Holocaust und für eine beispiellose Auslöschung von Leben gilt, der 1942 auch Ephraim und Emma Rabinovitch sowie ihre beiden Kinder Noémie und Jacques, 19 und 17 Jahre alt, zum Opfer fallen. Drei von ihnen starben in der Gaskammer, Noémie überlebte eine Typhus-Erkrankung nicht.

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Christoph Heubner – „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“

„(…), wir brauchen keine Worte, das Wissen war in uns eingesickert wie Blut in die Erde.

Dieser Ort, Sinnbild für millionenfaches Sterben und Leid, wird im Text kein einziges Mal erwähnt. Sein Name findet sich nur in der Unterzeile des Buches. Selbst wenn dieser schmale Band keine Überschrift tragen würde, könnte der Leser wohl bereits anhand der ersten der insgesamt nur drei Geschichten erkennen, wovon dieses Buch handelt. Es sind Geschichten über Auschwitz und den Holocaust, die trotz ihrer Kürze und ihrer wenigen Protagonisten beziehungsweise Stimmen Symbol für das noch immer unvorstellbare und unerklärbare Grauen inmitten des 20. Jahrhunderts sind. Wer diesen Band mit dem langen Titel „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“ von Christoph Heubner zur Hand nimmt und liest, wird erschüttert sein. „Christoph Heubner – „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen““ weiterlesen

Frédéric Brun – „Perla“

„Mein Schmerz lässt mich verstehen, dass der eigentliche Lebensweg ins Innere führt und Perla in mir ist.“

Am 31. Juli 1944 setzt sich von Frankreich aus der Konvoi 77 mit rund 1.300 Personen, darunter mehrere Hundert Kinder, in Bewegung. Das Ziel: das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Unter ihnen: Perla, eine junge, lebenslustige und attraktive Frau. Sieben Monate lang durchleidet sie die unerbittliche Gewalt, Qualen, Hunger. Sie sieht andere sterben, riecht den Geruch der Verbrennungsöfen, hört die Schreie und das Stöhnen. Perla überlebt und kehrt nach Frankreich zurück, ihre Erlebnisse brennen sich als Schmerz in ihr Innerstes ein. Gepaart mit einer unauslöschlichen Angst verursacht dieser starke Depressionen.  Frédéric Brun hat ein Buch über seine Mutter geschrieben, ein nur schmaler, indes preisgekrönter Band, der Worte für das Unfassbare findet und den Leser tief berührt und prägt. „Frédéric Brun – „Perla““ weiterlesen

Juan Gómez Bárcena „Kanada“

„Alle schuldig. Alle würden sie alles tun, um zu überleben (…).“

Man möge mir verzeihen, dass dieser Band, der innen wie außen so voller Trauer und Schmerz ist, nach meiner Lektüre mit bunten Fähnchen übersät ist. Es gibt viele Passagen, die sich einprägen, die neben der Handlung und der Botschaft des Buches unvergesslich bleiben. Sicher: Es gibt viele Bücher über das Leiden und die Verbrechen, schlichtweg das Unfassbare, im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Doch der neue Roman des Spaniers Juan Gómez Bárcena mit dem eigenartigen Titel „Kanada“ ist wohl eines der anspruchsvollsten.

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Daan Heerma van Voss „Abels letzter Krieg“

„Die Welt war von einer nie dagewesenen Schwere.“

Manche meinen, die Atmosphäre in einigen Ländern Europas erinnert an die einst dunkle Zeit und die Vorboten dieses Unheils. Rassismus, Antisemitismus und Homophobie treten offen und vermehrt zutage. In seinem neuen Roman zieht der Niederländer Daan Heerma van Voss ebenfalls Parallelen zwischen der Gegenwart und der einstigen Geschichte und verkündet mit Hilfe des markanten wie sympathisch wirkenden Romanhelden zwei wichtige Botschaften. „Daan Heerma van Voss „Abels letzter Krieg““ weiterlesen

Dunkler als schwarz – Jona Oberski „Kinderjahre“

„Ich merkte zwar, dass ich Fieber hatte. Aber das mit den fünf Tagen glaubte ich nicht. Es war ein dunkles Loch in der Zeit.“

Das Ziel der Reise war das Grauen. Koffer wurden gepackt, ein Zug bestiegen. Für Millionen Menschen war jene Fahrt eine ohne Wiederkehr. Die historischen Bilder der Gleise, Güterwaggons und Bahnhöfe an den Konzentrationslagern sind bis heute genauso ein Symbol für den Holocaust wie die Aufnahmen der Lager selbst. „Aber bald fahren wir wieder nach Hause“, tröstet die Mutter den kleinen Jona. Er wird als einziger den Krieg überleben, als Erwachsener in „Kinderjahre“ rund 30 Jahre später darüber erzählen und damit ein herausragendes literarisches Dokument schaffen, das nun als eine Neuerscheinung im Diogenes-Verlag auf seine Wiederentdeckung wartet.  „Dunkler als schwarz – Jona Oberski „Kinderjahre““ weiterlesen