„Die Welt zerfällt in zwei Lager: die Forscher und die Versüßer.“
Von der kleinsten Hütte bis zum prunkvollen Präsidentenpalast: Häuser erzählen immer wieder Geschichten. Von der Zeit, in der sie bestehen, von den Menschen, die ob kurz oder lang in ihnen wohnen. In ein schon etwas marodes Haus in New Jersey und in zwei Jahrhunderte führt die Amerikanerin Barbara Kingsolver in ihrem Roman „Die Unbehausten“, in dem die Vergangenheit einem vertrauter erscheint, als einem lieb ist.
„Niemand kann sich aussuchen, was über ihn hereinbricht.“
Wenn es plötzlich nicht an der Tür geklopft hätte, sie die Fremden nicht eingelassen hätten, wie wäre diese Nacht für Hallstein und Sissel verlaufen? Die Geschwister sind zum ersten Mal allein, für einige Stunden auf sich gestellt. Denn ihre Eltern sind für eine Beisetzung in das Nachbardorf gefahren. Es ist der Beginn einer unvorhersehbaren und folgenreichen Begegnung und das Ende einer unbeschwerten Kindheit. Der norwegische Schriftsteller Tarjei Vesaas (1897-1970) konfrontiert die jungen Protagonisten seines Romans „Frühlingsnacht“ mit den Herausforderungen des Lebens und bricht mit den Erwartungen der Leser.
Fremde in Not
Es ist eine Frühlingsnacht im Norden, die schon Anzeichen des kommenden Sommers in sich trägt: Es ist warm, die Tage sind gefühlt fast endlos. Hallstein erkundet die Pflanzen- und Tierwelt auf der von Engelwurz übersäten Wiese vorm Haus, denkt an seine imaginäre Freundin Gudrun, die er am Fensterchen zu sehen glaubt. Doch dann stehen Fremde vor der Tür: vier Erwachsene und eine Jugendliche, die so heißt wie Hallsteins Freundin im Geiste. Gudrun scheint lebendig geworden zu sein. Doch die Fremden sind in Not. Ihr Auto hat eine Panne. Die jüngere Frau, Grete, erwartet ihr Kind und liegt in den Wehen. Eine Hebamme muss her.
Doch die anstehende Geburt fern einer Klinik ist nicht die einzige Herausforderung für die beiden Geschwister. Sie werden mit den Konflikten innerhalb der fremden Familie konfrontiert. Gretes Mann Karl war im Krieg. Zwischen seinem unentschlossenen wie hilflosen Vater Hjalmar und seiner zweiten Frau Kristine gibt es Spannungen, die dazu geführt haben, dass sie das Sprechen und Gehen verweigert, sich tragen lassen muss und sich nicht äußern will. Mit ihren persönlichen Problemen und Befindlichkeiten und Wünschen nehmen sie vor allem Hallstein in Beschlag, der hin und hergerissen wird und in dieser Extremsituation zwischen den Stühlen steht – ohne wirklich zu wissen, wie all die Differenzen entstanden sind. Auch der Leser bleibt darüber im Ungewissen. Vesaas Buch erzählt viel, aber eben auch nicht alles, doch sein Blick geht in die Tiefe. Aus dem für die Geschwister vertrauten Raum, dem Haus der Familie, wird ein Ort der Konflikte.
„Alles war voller Spiel und Farben und Sehnsucht, man konnte es hören, erkennen wie undeutliche Versprechungen. Irgendwann würde man das alles bekommen.“
Manche Figur bleibt im Hintergrund, eine andere rückt nach vorn: allen voran Hallstein, der von Beginn an im Zentrum des Romans steht. Der 14-Jährige lebt in seiner eigenen Welt und hat das Herz auf dem rechten Fleck, sein vier Jahre älter Schwester vergöttert er. Mit dem Überraschungsbesuch der Fremden wird er mit der Realität konfrontiert – den hellen und dunklen Seiten des Lebens. Er hegt Gefühle für die lebendige Gudrun. Bereits zu Beginn kommt ein neuer Mensch, am Ende geht ein Mensch für immer. In „Frühlingsnacht“ liegt viel Dramatik. Im Kopf spielt sich während der Lektüre kein Film, sondern vielmehr eine Tragödie auf einer Theaterbühne mit einer reduzierten Kulisse ab.
„Die Nacht war blau und still. Ein wunderlicher Stoß durchzuckte ihn: Dass man so viel Neues lernen kann! Der Gedanke ließ alles ringsum freundlich wirken.“
Vesaas Roman erschien 1954 mit dem Originaltitel „Vårnatt“. Nach „Das Eisschloss“, „Die Vögel“ und „Der Keim“ ist es der mittlerweile vierte Roman, den der Berliner Guggolz Verlag, ins Deutsche erneut meisterhaft von Hinrich Schmidt-Henkel übertragen, herausgegeben hat, um damit hierzulande eine Vesaas-Begeisterung förmlich zu entzünden. In seiner norwegischen Heimat gilt Vesaas als einer der großen literarischen Stimmen. Nach ihm ist ein Preis benannt, den er mit dem Preisgeld, das er für den Literaturpreis des Nordischen Rates erhalten hatte, gestiftet hat, selbst war er mehrfach für den Literaturnobelpreis vorgesehen. Seine Werksliste ist lang, umfasst neben einer Vielzahl an Romanen – der Guggolz Verlag hat also noch reichlich Stoff für die nächsten Jahre – auch Kurzprosa, Dramen und Lyrik – alle in Nynorsk, eine der beiden norwegischen Schriftsprachen, verfasst.
„Lässt die Stimmungen gleiten“
Vesaas Romane sind keine Leichtgewichte – sowohl inhaltlich als auch in ihrer sprachlichen Schönheit. Vielmehr fordern sie heraus, sich den Extremsituationen und -stimmungen der jeweiligen Protagonisten mit zu stellen, deren Inneres nach außen gekehrt wird. Am Ende ist nichts, wie es zu Beginn war. Alle sind verändert – auch der Leser, dessen Erwartung auf den Kopf gestellt wird. Eben auch in dieser dann doch dunklen „Frühlingsnacht“ mit all ihren Hoffnungen, aber auch Schrecken und Schmerzen.
Die norwegische Autorin Hanne Ørstavik schreibt in ihrem, mehr um sie selbst drehenden Text für eine Anthologie, anlässlich des 125. Geburtstags des Schriftstellers 2022 erschienen und nun der deutschen Ausgabe als Nachwort beigegeben: „Vesaas hat seine Art und Weise, er gleitet in seine Sätze hinein, lässt die Stimmungen gleiten, folgt Nuancen und lässt sie zum Wichtigen werden, zum Sichtbaren, zu dem, was ist und was zu Veränderung führt.“
Mit diesem Band – im Übrigen wie mehrere seiner Romane einst in den 70er-Jahren verfilmt worden – bekommt die kleine Vesaas-Bibliothek einen weiteren meisterhaften Neuzugang. Doch das Reich des Norwegers ist groß – wie die Vorfreude auf weitere Perlen aus dessen literarischen Schatzkiste.
Daphne du Maurier und ihr Haus in Menabilly, Edith Whartons Villa „The Haunt“, Toni Morrisons Hausboot: So wie Schriftstellerinnen namhaft wurden, so bekannt wurden oft auch ihre Häuser, in denen ihre Werke entstanden sind. Schreiben fordert Rückzug, formt den Drang nach einem persönlichen Raum. Über Autorinnen und ihre Schreibräume erzählt die Norwegerin Kristin Valla in ihrem Buch „Ein Raum zum Schreiben“ – verknüpft mit ihrer eigenen Suche nach einem geeigneten Ort, die sie nach Südfrankreich führte.
„Und ich werde alles geben und drauf achten, dass mich die Dunkelheit nicht überfällt.“
Sie schuftet für zwei, pendelt tagtäglich zwischen Bäckerei, College und Bar, um sich ihren Traum zu erfüllen. Die 30-jährige Lynette will das Haus kaufen, in dem sie mit ihrem Bruder Kenny aufgewachsen ist und darin ein Zuhause für die Zukunft schaffen, obwohl es alles andere als ein Prachtschloss ist, sondern eher einer Bruchbude gleicht. Sie versucht, das nötige Geld Cent für Cent zusammenzukratzen. Und das über Jahre. Doch ihre Mutter Doreen hat ganz andere Pläne. Doch das wird ihrer Tochter erst später bewusst. Mit „Nacht wird es immer“ hat der US-Amerikaner Willy Vlautin einen großartigen Roman geschrieben, der sowohl einen Grundkonflikt in einer bereits zerrütteten Familie schildert, als auch die Abgründe der US-amerikanischen Gesellschaft aufzeigt, in der unzählige Träume wie billiges Geschirr zerschlagen werden.
„Nur Papa sank, kam nie an die Oberfläche, hatte etwas in sich, das ihn schwer machte.“
Es sind nur wenige Sekunden, in denen die zehnjährige Elin ihren Vater und ihre beiden älteren Brüder Thomas und Vegard für immer verliert. Auf dem Weg zu einer Familienfeier kommen sie infolge eines Erdrutsches ums Leben. Das Mädchen und ihre Mutter sind an jenem Tag daheim geblieben. Mehr als 20 Jahre später und nach dem Tod der Mutter kommt die nunmehr erwachsene Elin einem streng gehüteten Geheimnis auf die Spur, das die gesamte Familiengeschichte nicht nur infrage stellt. In ihrem berührenden wie atmosphärischen Roman „Das Haus über dem Fjord“ erzählt die Norwegerin Kristin Valla von Trauer und Schmerz und welche Folgen die Geheimnisse der Eltern auf die nächste Generation haben können.
„Vielleicht möchte man durch den Besuch eines Ortes der Erinnerung, selbst wenn die Erinnerung nicht die eigene ist, den Lauf der Geschichte für einen Augenblick aufhalten.“
Ein Tag im Spätsommer 1979 in Gent: Während eines Spaziergangs durch das Stadtviertel Patershol entdeckt Stefan Hertmans ein historisches Patrizierhaus. Wenig später erwirbt er das Gebäude; obwohl es kein Palast, sondern verwinkelt, kalt und feucht ist, und Hertmans damals gerade mal 28 Jahre alt und knapp bei Kasse ist. Was er damals noch nicht ahnen konnte – in dem Haus wohnte einst der berüchtigte SS-Offizier Willem Verhulst mit seiner Familie. Der Autor begibt sich auf die Spuren der Vorbewohner, seine Recherche-Ergebnisse, literarisch verarbeitet, münden schließlich in sein meisterhaftes Buch „Der Aufgang“. „Stefan Hertmans – „Der Aufgang““ weiterlesen →