Ein Jahrhundert – Holger Siemann „Das Weiszheithaus“

„Wir sollen für das Haus sorgen wie für ein lebendiges Wesen, dann wird das Vertrauen wachsen, dann werden wir eine Familie sein, Brüder und Schwestern (…).“

Ein Haus bietet nicht nur seinen Bewohnern ein Dach und ein Zuhause. Es könnte auch erzählen – vom Lauf der Zeit mit all ihren Geschehnissen, Veränderungen und Erscheinungen sowie von den Geschichten über das Leben und Schaffen der Menschen. Wenn es nicht schon sie es sind, die berichten. In seinem neuen wunderbaren Roman „Das Weiszheithaus“ setzt Holger Siemann ein Mietshaus in Berlin in den Mittelpunkt des Geschehens und lässt dessen Bewohner sprechen – von lichten wie von dunklen Zeiten.  „Ein Jahrhundert – Holger Siemann „Das Weiszheithaus““ weiterlesen

Drei Frauen – Svealena Kutschke „Stadt aus Rauch“

„Sie hatte gerade die Angst vor der Dunkelheit verloren, als sie lernte, dass es die Dunkelheit war, in der Menschen verschwanden.“

Lübeck – Hansestadt und Weltkulturerbe, an der Trave gelegen, bekannt für Marzipan und als Schauplatz des berühmten Thomas-Mann-Romans „Die Buddenbrooks“, erste Großstadt, die während des Zweiten Weltkriegs bei einer Flächenbombardierung der Alliierten Tod und Verwüstung erfuhr. Lübeck zählt für mich zu den charismatischsten Städten des Nordens, hat Geschichte und Geschichten geschrieben. Eine ist nun mit dem neuen Roman von Svealena Kutschke dazugekommen, der die wechselvolle Historie der Stadt mit jener einer Familie auf unnachahmliche Art und Weise verschmelzen lässt.  „Drei Frauen – Svealena Kutschke „Stadt aus Rauch““ weiterlesen

Macht der Täuschung – Chris Kraus „Das kalte Blut“

„Täuschung ist meine Währung. Es gibt keine härtere. Wer aber damit zahlt, das sage ich, ist noch lange nicht durch und durch falsch.“

1945, nach mehr als fünf Jahren Krieg, lagen Deutschland sowie weite Teile Europas und der Welt in Schutt und Asche. Bis zu 80 Millionen Menschen verloren ihr Leben, darunter allein sechs Millionen Juden, die während des Holocaust umgebracht wurden. Nur eine recht überschaubare Zahl ihrer Mörder wurde für ihre bestialischen Verbrechen belangt. Nicht wenige indes knüpften an ihre Karriere bei der SS oder der Wehrmacht an. In seinem neuen Roman „Das kalte Blut“ erzählt Chris Kraus eine jener bis heute unvorstellbaren, aber realen Geschichten.

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Obsession – Lea Singer „Die Poesie der Hörigkeit“

„Kein undurchsichtiger als Benn.“

Sie hat geliebt und gelitten. Ihr Leben, eingezwängt zwischen namhaften Männern, war ein zügelloses und unstetiges. Mopsa Sternheim ist zwölf, als sie Gottfried Benn, Dichter und Arzt, kennenlernt. Es sollte eine ihr Leben prägende Begegnung sein. Fortan himmelt sie ihn und seine Gedichte an, ohne ihm wirklich nahe zu kommen, da stets auf Abstand gehalten. Lea Singer erzählt in ihrem neuen Roman „Die Poesie der Hörigkeit“ vom Leben dieser Frau, die stark war und sich gleichzeitig selbst doch so ausgeliefert hatte.   „Obsession – Lea Singer „Die Poesie der Hörigkeit““ weiterlesen

Brief als Waffe – Kressmann Taylor „Adressat unbekannt“

Es ist ein kleiner leichter Band. Anthrazitfarbene Leinenoptik. Ein Briefumschlag ziert das Cover. Eine Gestaltung, die schlicht, aber wiederum markant erscheint. Gerade mal 67 Seiten umfasst „Adressat unbekannt“ von Kressmann Taylor. Doch der Roman ist ein Werk mit extremer Wirkung, das von einer besonderen Geschichte erzählt und selbst Geschichte geschrieben hat und viel länger wirkt als der Leser darin versunken ist. Die Neuausgabe des Verlags Hoffmann und Campe als Sammleredition des erstmals 1938 veröffentlichten Werkes könnte wohl zu keinem geeigneteren Zeitpunkt erscheinen.   „Brief als Waffe – Kressmann Taylor „Adressat unbekannt““ weiterlesen

Scheinwelt – Oliver Hilmes „Berlin 1936“

„Das sind also die Männer, die sich anmaßen, die Existenzen zahlloser Menschen zu zerstören?“

Der Monat August beginnt. Die Menschen sind in Vorfreude. Die ganze Welt blickt auf die Stadt. Es könnten unbeschwerte und lebendige Olympische Spiele werden, bei denen sich Sportler aus aller Herren Länder im fairen Wettstreit messen können. Doch man schreibt das Jahr 1936, die Stadt trägt den Namen Berlin, die Nationalsozialisten haben seit mehr als drei Jahren das Dritte Reich im festen und unerbittlichen Griff. Der Führer Adolf Hitler und seine oberste Riege wissen, die Spiele für ihre Zwecke zu missbrauchen, eine glanzvolle Scheinwelt zu inszenieren.

Berlin 1936 von Oliver Hilmes
Berlin 1936 von Oliver Hilmes

In seinem Band „Berlin 1936. 16 Tage im August“ entwirft Autor Oliver Hilmes ein lebendiges und facettenreiches Bild dieses sportlichen Großereignisses und der pulsierenden Hauptstadt. Er führt an verschiedene Orte, erzählt von verschiedenen Personen – von sowohl „Normalsterblichen“ als auch prominenten Köpfen. Die meisten der realen Protagonisten verfolgt Hilmes wie an einem roten Faden über längere Zeit: da sind unter anderem der amerikanische Autor Thomas Wolfe und sein deutscher Verleger Ernst Rowohlt, da ist die jüdische Dichterin Mascha Kaléko und Leon Henri Dajou, der Besitzer der Kult-Bar „Quartier Latin“. Manche tauchen indes nur kurz, nahezu schlaglichtartig auf. Viele dieser Schicksale ergreifen und zeigen das wahre Gesicht des Regimes, das unter der inszenierten Scheinwelt nahezu verborgen bleibt. Da werden Sinti und Roma verschleppt und in ein Lager im Stadtteil Marzahn inhaftiert, Homosexuelle, Juden und Andersdenkende verfolgt, die Gesetze systematisch verschärft, die Denunzierung erlebt Hochkonjunktur. Viele dieser grausamen Ereignisse finden im Hintergrund statt, nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit, die von diesem sportlichen wie medialen Ereignis ge- und verblendet wird. Nur wenige schauen hinter die Maske der heuchlerischen Fratze der Nationalsozialisten. Die Medien sind gleichgeschaltet, die Reichspressekonferenz gibt konkrete Anweisungen an die Medien heraus. Das junge Medium Fernsehen erlebt seine Bewährungsprobe. Die Welt staunt ob des Ausmaßes und der schier gigantischen Organisationsmaschinerie. Es sind Massen, die in das Olympia-Stadion strömen, an Aufmärschen teilnehmen.  Doch da gibt es noch eine andere Welt abseits des gleichgeschalteten Reiches: die Bars und Kneipen, in denen sich nicht nur Intellektuelle und Promis aller couleur treffen, sondern in denen auch das normale Volk begrüßt wird. Im Club „Nobel“, in der Sherbini-Bar und im Quartier Latin findet sich allabendlich eine illustre  Gästeschar ein – zu einem Glas Wein oder Whisky, zur verpönten Swing-Musik bekannter Kapellen.

„Tom realisiert, dass die Nationalsozialisten alle hassen, die anders sind als sie. Ihm wird klar, dass sie dieses Land, das Tom so sehr liebt, schleichend mit ihrem Gift durchsetzen, dass sie es zerstören wollen: ‚Es war eine Seuche des Geistes – unsichtbar, aber unverkennbar, wie der Tod.'“

Hilmes gelingt es, mit zahlreichen Fakten aus seiner sehr intensiven Quellen-Recherche zu informieren und zu überraschen sowie unterhaltsam zu erzählen – oft mit einem herrlich augenzwinkernden Humor. Als einen herben, ja düsteren Kontrast lässt er beim Leser ein Gefühl der Beklemmung entstehen angesichts jener Vielzahl an Schicksalen und Menschen, die unter der braunen Diktatur leiden, deren Leben nicht nur auf den Kopf gestellt wird, sondern schlichtweg in großer Gefahr ist. Kleine kurze Andeutungen weisen in die Zukunft der jeweiligen Personen voraus, von denen letztlich in einem abschließenden Abschnitt mit dem Titel „Was wurde aus…“ erzählt wird. Mit oft traurigen Erkenntnissen, wie zum Beispiel zum Schicksal des deutschen Weitspringers Carl Ludwig „Luz“ Long,  der mit seinem Konkurrenten, dem mehrfachen Olympiasieger und amerikanischen Leichtathletik-Star Jesse Owens, Freundschaft schließt. Unter dem leuchtenden Spektakel taucht der dunkle Abgrund auf; das beweist nicht nur die hohe Selbstmordrate in jenen Wochen, sondern auch jene „geheimnisvolle Reisegesellschaft“, die sich von Deutschland aus auf den Weg nach Spanien macht. Es sollen nur noch drei Jahre vergehen, bis der große Krieg ausbricht. Der Bürgerkrieg im Süden Europas ist dessen Prolog.

In Hilmes‘ unvergleichlich lebendigem Porträt jener 16 Tage im August finden sich nahe sämtliche gesellschaftlichen Bereiche wieder: Sport und Kultur, die Bühne der Diplomatie genauso wie die große Politik. Der Autor, der sich in früheren Werken unter anderem mit den Biografien von Cosima Wagner, Franz Liszt und Bayern-König Ludwig II. beschäftigt hat, stellt sowohl die Nazi-Größen mit ihrem fanatischen Machtstreben und Rassen-Wahn als auch jene Diplomaten westlicher Nationen sowie Vertreter des olympischen Komitees bloß, die anstatt kritisch Stellung zum Rassismus und Antisemitismus im Dritten Reich zu beziehen, vielmehr wegschauen und kuschen. „Berlin 1936“ ist ein bemerkenswerter Band, der, angereichert mit kleinen und großen Geschichten und mit Original-Zeitdokumenten, den Leser über die Lektüre hinaus weiter beschäftigt und kräftig nachhallt.

Weitere Besprechungen gibt es auf den Blogs „54books“ und „Seitenauslinie“.

Der Band „Berlin 1936. 16 Tage im August“ von Oliver Hilmes erschien im Siedler-Verlag; 304 Seiten, 19,99 Euro