Backlist #21 Anne Berest – „Die Postkarte“

„Die Geister waren keine namenlosen Wesen mehr, keine Zahlen in irgendwelchen Geschichtsbüchern.“

Manchmal gibt es Zeiten, in denen besondere Erfahrungen aufeinandertreffen, die reale Erlebnisse mit Literatur und deren Lektüre verknüpfen. Es ist der 28. März, als ich mit mehr als 30 Schülern kurz vor 3 Uhr in Naumburg einen Bus besteige, der acht Stunden später und nach mehr als 700 Kilometern die südpolnische Stadt Oświęcim erreicht. Auschwitz – das ist der Ort, der heute als Symbol des Holocaust und für eine beispiellose Auslöschung von Leben gilt, der 1942 auch Ephraim und Emma Rabinovitch sowie ihre beiden Kinder Noémie und Jacques, 19 und 17 Jahre alt, zum Opfer fallen. Drei von ihnen starben in der Gaskammer, Noémie überlebte eine Typhus-Erkrankung nicht.

vier Namen – kein Absender

Vom Schicksal ihrer Familie erzählt Anne Berest in ihrem Roman „Die Postkarte“, den ich wenige Tage später nach meiner Fahrt nach Oświęcim lese. Es ist das Buch für das nächste Treffen meines Lesekreises – eine weitere Erschütterung nach all dem Gesehenen und Erlebten: diese Unmenge an Blocks und Baracken, diese kilometerlangen Stacheldraht-Zäune, die Rampe nahe den Gleisen, auf der über Leben und Tod mit einem einzigen Wink entschieden wurde, diese unfassbare Verbindung von Hass und tödlicher wie erbarmungsloser Effizienz. Kein Buch, kein Film kann einen darauf vorbereiten, was in der Gedenkstätte, die das Stammlager und Auschwitz-Birkenau umfasst, auf 191 Hektar gezeigt wird, die sowohl an die 1,1 Millionen Todesopfer, Frauen, Männer und Kinder aus zahlreichen europäischen Ländern, als auch an das unendliche Leid der Überlebenden erinnert. Doch zusammen entsteht eine unvergessliche und prägende Erfahrung für das ganze Leben.

Es ist der 6. Januar 2003, als Anne Berests Mutter Lélia eine ominöse Postkarte erhält. Darauf sind nur die vier Namen von Ephraim und Emma, von Noémie und Jacques geschrieben. Es gibt keine Botschaft, keinen Absender. Die Postkarte zeigt die Opéra Garnier, der Poststempel stammt von einem Postamt am Louvre. Es ist der Beginn für die französische Schauspielerin, Regisseurin und Autorin, den Namen der unbekannten Person, die diese Karte geschrieben und abgeschickt hatte, herauszufinden. Jahre, nachdem ihre Mutter begonnen hatte, die Familiengeschichte akribisch wie aufwendig mit Hilfe von Dokumenten und Zeitzeugen zu recherchieren.

Warnungen missachtet

Lélias Großeltern mütterlicherseits waren Juden und stammten aus Russland. Nach der Revolution kam es zu Pogromen. Die Familie ging zunächst nach Riga, dann nach Palästina und kam 1929 schließlich, inzwischen fünfköpfig, in Paris an. Ephraim und seine Frau bauten für sich und ihre Kinder ein Leben in Frankreich auf, während ihre Verwandten in alle Himmelsrichtungen verstreut worden sind.

Doch wie so viele glaubten sie nicht den Warnungen, als in Deutschland die Nationalsozialisten an die Macht kamen und Emma kein Lebenszeichen mehr von ihrer Familie, die in Polen lebte, vernahm. Im Juni 1940 begann die Besetzung eines großen Teils Frankreichs durch die deutschen Truppen und damit auch die Judenverfolgung, die auch durch einen Teil der Bevölkerung unterstützt wurde, während andere Juden halfen oder versteckt hielten. Den Rat, in die USA auszuwandern, ignorierte Ephraim, was letztlich sein und das Schicksal seiner Familie besiegelte. Selbst als ihn die ersten Nachrichten von den Lagern erreichten, glaubte er ihnen nicht.

„Ich dachte an Noémie, an die Romane, die in ihr geschlummert hatten und die nie geschrieben worden waren. Dann dachte ich an all die Bücher, die mit ihren Autoren in den Gaskammern gestorben waren.“

Nur eine wird überleben und durch viel Glück der Vernichtung entkommen: Myriam, Ephraims und Emmas Tochter und Annes Großmutter Myriam, die mit ihrem Mann Vicente, Sohn des Malers Francis Picabia, in einer Hütte nahe dem südfranzösischen Cereste eine Zuflucht fand, sich später dem Widerstand anschloss. Berests Recherchen führen zu den Stationen des wechselvollen wie dramatischen Lebens ihrer Großmutter, die nie über ihre Erlebnisse berichtet hatte. Diese Spurensuche bringen nicht nur Mutter und Tochter näher zusammen, die Autorin, nunmehr selbst Mutter, beginnt, sich intensiv mit ihren jüdischen Wurzeln auseinanderzusetzen und ihre Identität sowie den aktuellen Antisemitismus zu hinterfragen.

Das Schicksal von Noémie, deren Gesicht sich auf dem Cover des Buches findet, ist mit dem Lebensweg zwei weiterer besonderer Frauen eng verknüpft: Im Juli 1942 wurde die Schriftstellerin Irène Némirovsky (1903-1942) nach Auschwitz deportiert, wo sie wenige Wochen später starb. Ihre Töchter Töchter Denise und Élisabeth hatten in einem Koffer das letzte Manuskript ihrer Mutter gerettet: den unvollendeten Roman „Suite française“, der indes erst Jahrzehnte später entdeckt wurde. Ob sich die Wege von Irène und Noémie, die ebenfalls sich dem Schreiben widmete, Erzählungen verfasste, Tagebuch führte, in Auschwitz jemals kreuzten, ist indes unbekannt.

Zudem unterstützte sie in einem französischen Internierungslager die Ärztin Adélaïde Hautval (1906-1988), die später in ihrem Band „Medizin gegen die Menschlichkeit“ über ihre Erfahrungen schrieb und 1965 von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern geehrt wurde.

„Jodorowsky sagt, ich zitiere: Im (Stamm-)Baum finden wir traumatisierte, nicht verarbeitete Stellen, die unablässig versuchen zu heilen. Von diesen Stellen aus werden Pfeile in die zukünftigen Generationen geschossen. Was nicht gelöst werden konnte, muss wiederholt werden und einen anderen treffen, ein Ziel, das eine oder mehrere Generationen entfernt ist.“

„Die Postkarte“ stand nach seinem Erscheinen 2021 mehrere Jahre auf der französischen Bestsellerliste und war für mehrere große Literaturpreise des Landes nominiert. Das Werk, das die Form des Romans mit journalistischem Erzählen auf faszinierende Weise verknüpft, schildert sowohl das Grauen des Holocaust anhand einzelner Schicksale als auch das Traumata folgender Generationen, ein Verbrechen, das erst durch das Handeln vieler möglich gemacht wurde: von den Tätern, ihren Helfer und auch jenen, die einst weggesehen und/oder sich bereichert haben.

Gerade in dieser Kombination ist dieser darüber hinaus fesselnde Roman ein erschütterndes literarisches Zeugnis, das in jedes Buchregal gehört und einem zudem vor Augen führt, dass es nun an den kommenden Generationen liegt, die Opfer vor dem Vergessen zu bewahren und ihrer zu gedenken – was auch das Anliegen des Absenders der Postkarte war, wie der Leser am berührenden Schluss des Buches erfahren wird.

Weitere Besprechungen gibt es auf den Blogs „Literatur-Reich“ und „Lust auf Literatur“.

In der Reihe „Backlist“ werden Romane verschiedenster Verlage vorgestellt, die bereits vor einigen Jahren erschienen und womöglich bereits leicht in Vergessenheit geraten sind, doch die es wert sind, dass an sie erinnert wird. Bisher in dieser Reihe veröffentlichte Besprechungen gibt es zu:

Carmen Laforet „Nada“Davide Longo „Der aufrechte Mann“Per Petterson „Nicht mit mir“Agota Kristof „Das große Heft“ , Michela Murgia „Accabadora“Robert Seethaler „Der Trafikant“John Wray „Die rechte Hand des Schlafes“György Dragomán „Der weiße König“Einar Már Gudmundsson „Engel des Universums“Gila Lustiger „Die Schuld der anderen“James Hanley „Ozean“Becky Chambers „Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten“Jochen Missfeldt „Solsbüll“Maylis de Kerangal „Die Lebenden reparieren“Niccolò Ammaniti „Anna“Jan Kjærstad „Ich bin die Walker Brüder“, Elizabeth Strout „Mit Blick aufs Meer“Michael Köhlmeier „Spielplatz der Helden“Niccolò Ammaniti „Ich habe keine Angst“, Gaito Gasdanow „Nächtliche Wege“ 


Anne Berest: „Die Postkarte“, erschienen im Berlin Verlag, in der Übersetzung aus dem Französischen von Amelie Thoma und Michaela Meßner; Taschenbuchausgabe erschien im Piper Verlag; 544 Seiten, 16 Euro

Foto von Alan Wouda auf Unsplash

Ein Kommentar zu „Backlist #21 Anne Berest – „Die Postkarte“

  1. Ich teile die fast ausnahmslos positiven Kritiken zu ‚Die Postkarte‘ nicht.

    1. Frau Berest benutzt die Charaktere als Vehikel.
      Es verschwimmen reale Biographien, Ereignisse mit großen Teilen fiktionaler Erzählungen.
    2. Die überaus akribische Beschreibung der Personen, Situationen, Handlungen wirft die Frage nach Authentizität auf. Wo stimmen die stimmen historischen Details, wo beginnt die Fiktion?
      Ich halte diese Gratwanderung für gefährlich, es erschüttert die Glaubwürdigkeit des Buches und manipuliert den Leser, gerade bei einem so wichtigen Thema
      Zudem zerfasert die Handlung im letzten Teil des Buches, die Beziehung zwischen Myriam und ihrem drogenabhängigen Ehemann sollte vermutlich noch mehr Drama und Spannung vermitteln.
      Eine Orientierung an den Fakten – und diese liegen ja in hinreichender Fülle vor – eine Schilderung der Abläufe des Erlebten, ohne allzu sehr ins Nebulöse, Psychologisierende abzugleiten, hätten dem Buch, vor allem aber den Charakteren einen besseren Dienst erwiesen.

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