„Im portugiesischen Imperium ist die Sonne niemals untergegangen.“
Sie hat die Himalaya-Region bereist und eine Handvoll einstige südliche Sowjetrepubliken. Sie hat die unendlich lange Grenze Russlands erkundet. Und immer hat sie auch darüber geschrieben: Erika Fatlands Bücher verbinden auf einzigartige Weise Geschichte mit Gegenwart, erzählen von nahen wie fernen Ländern, ihrer Kultur und ihren Menschen. Zwischen Januar 2022 und Januar 2024 reiste die norwegische Sozialanthropologin und mehrfach preisgekrönte Autorin auf den Spuren des einstigen portugiesischen Imperiums – und nahezu um die ganze Welt. „Erika Fatland – „Seefahrer““ weiterlesen →
„Es ist wie einem Theaterstück beizuwohnen, einer Tragödie, die letzte Szene, das Ende von allem.“
Das Wort Kipppunkt ist ein aktuell häufig verwendeter Begriff. Ganz allgemein beschreibt er einen kritischen Punkt, an dem eine kleine Veränderung zu einem größeren, oft unumkehrbaren Wandel in einem System führt. Auch im Hinblick auf den Alkoholkonsum wird er gebraucht. Ab wann wird aus einem bewussten Trinken ein maßloses, unkontrollierbares? Im Fall von Lisette geschah es wohl in jener Zeit, als sie Mutter drei kleiner Söhne ist. Ein Jahr nach ihrem Tod schreibt ihr Sohn Alexander ein Buch darüber, wie der Alkohol und ihr Trinken die Familie nahezu aufgefressen haben.
„Welche dunklen Schluchten und Abgründe konnten sich in den Tiefen eines Menschen verbergen?“
Donau. Ich denke da an Wasser, einen durch Länder strömenden Fluss. An bekannte Städte. Wien, Budapest, Bratislava, Belgrad. An eine Schiffsfahrt. Norwegische Juden verbinden diesen Namen jedoch mit einem niemals endenden Schmerz. Mit Leid, Tod und Auslöschung. Die MS „Donau“ brachte während des Zweiten Weltkriegs Hunderte Juden von Oslo nach Polen, wo die meisten in den dortigen Konzentrationslagern ermordet wurden. Dass Ellen und ihre Familie im Herbst 1942 nicht auf das deutsche Frachtschiff kamen, ist Fluchthelfern zu verdanken, die die Glotts über die Grenze nach Schweden brachten. Zwei von ihnen haben jedoch ein düsteres Geheimnis, das erst Jahre später aufgedeckt wird.
„Niemand kann sich aussuchen, was über ihn hereinbricht.“
Wenn es plötzlich nicht an der Tür geklopft hätte, sie die Fremden nicht eingelassen hätten, wie wäre diese Nacht für Hallstein und Sissel verlaufen? Die Geschwister sind zum ersten Mal allein, für einige Stunden auf sich gestellt. Denn ihre Eltern sind für eine Beisetzung in das Nachbardorf gefahren. Es ist der Beginn einer unvorhersehbaren und folgenreichen Begegnung und das Ende einer unbeschwerten Kindheit. Der norwegische Schriftsteller Tarjei Vesaas (1897-1970) konfrontiert die jungen Protagonisten seines Romans „Frühlingsnacht“ mit den Herausforderungen des Lebens und bricht mit den Erwartungen der Leser.
Fremde in Not
Es ist eine Frühlingsnacht im Norden, die schon Anzeichen des kommenden Sommers in sich trägt: Es ist warm, die Tage sind gefühlt fast endlos. Hallstein erkundet die Pflanzen- und Tierwelt auf der von Engelwurz übersäten Wiese vorm Haus, denkt an seine imaginäre Freundin Gudrun, die er am Fensterchen zu sehen glaubt. Doch dann stehen Fremde vor der Tür: vier Erwachsene und eine Jugendliche, die so heißt wie Hallsteins Freundin im Geiste. Gudrun scheint lebendig geworden zu sein. Doch die Fremden sind in Not. Ihr Auto hat eine Panne. Die jüngere Frau, Grete, erwartet ihr Kind und liegt in den Wehen. Eine Hebamme muss her.
Doch die anstehende Geburt fern einer Klinik ist nicht die einzige Herausforderung für die beiden Geschwister. Sie werden mit den Konflikten innerhalb der fremden Familie konfrontiert. Gretes Mann Karl war im Krieg. Zwischen seinem unentschlossenen wie hilflosen Vater Hjalmar und seiner zweiten Frau Kristine gibt es Spannungen, die dazu geführt haben, dass sie das Sprechen und Gehen verweigert, sich tragen lassen muss und sich nicht äußern will. Mit ihren persönlichen Problemen und Befindlichkeiten und Wünschen nehmen sie vor allem Hallstein in Beschlag, der hin und hergerissen wird und in dieser Extremsituation zwischen den Stühlen steht – ohne wirklich zu wissen, wie all die Differenzen entstanden sind. Auch der Leser bleibt darüber im Ungewissen. Vesaas Buch erzählt viel, aber eben auch nicht alles, doch sein Blick geht in die Tiefe. Aus dem für die Geschwister vertrauten Raum, dem Haus der Familie, wird ein Ort der Konflikte.
„Alles war voller Spiel und Farben und Sehnsucht, man konnte es hören, erkennen wie undeutliche Versprechungen. Irgendwann würde man das alles bekommen.“
Manche Figur bleibt im Hintergrund, eine andere rückt nach vorn: allen voran Hallstein, der von Beginn an im Zentrum des Romans steht. Der 14-Jährige lebt in seiner eigenen Welt und hat das Herz auf dem rechten Fleck, sein vier Jahre älter Schwester vergöttert er. Mit dem Überraschungsbesuch der Fremden wird er mit der Realität konfrontiert – den hellen und dunklen Seiten des Lebens. Er hegt Gefühle für die lebendige Gudrun. Bereits zu Beginn kommt ein neuer Mensch, am Ende geht ein Mensch für immer. In „Frühlingsnacht“ liegt viel Dramatik. Im Kopf spielt sich während der Lektüre kein Film, sondern vielmehr eine Tragödie auf einer Theaterbühne mit einer reduzierten Kulisse ab.
„Die Nacht war blau und still. Ein wunderlicher Stoß durchzuckte ihn: Dass man so viel Neues lernen kann! Der Gedanke ließ alles ringsum freundlich wirken.“
Vesaas Roman erschien 1954 mit dem Originaltitel „Vårnatt“. Nach „Das Eisschloss“, „Die Vögel“ und „Der Keim“ ist es der mittlerweile vierte Roman, den der Berliner Guggolz Verlag, ins Deutsche erneut meisterhaft von Hinrich Schmidt-Henkel übertragen, herausgegeben hat, um damit hierzulande eine Vesaas-Begeisterung förmlich zu entzünden. In seiner norwegischen Heimat gilt Vesaas als einer der großen literarischen Stimmen. Nach ihm ist ein Preis benannt, den er mit dem Preisgeld, das er für den Literaturpreis des Nordischen Rates erhalten hatte, gestiftet hat, selbst war er mehrfach für den Literaturnobelpreis vorgesehen. Seine Werksliste ist lang, umfasst neben einer Vielzahl an Romanen – der Guggolz Verlag hat also noch reichlich Stoff für die nächsten Jahre – auch Kurzprosa, Dramen und Lyrik – alle in Nynorsk, eine der beiden norwegischen Schriftsprachen, verfasst.
„Lässt die Stimmungen gleiten“
Vesaas Romane sind keine Leichtgewichte – sowohl inhaltlich als auch in ihrer sprachlichen Schönheit. Vielmehr fordern sie heraus, sich den Extremsituationen und -stimmungen der jeweiligen Protagonisten mit zu stellen, deren Inneres nach außen gekehrt wird. Am Ende ist nichts, wie es zu Beginn war. Alle sind verändert – auch der Leser, dessen Erwartung auf den Kopf gestellt wird. Eben auch in dieser dann doch dunklen „Frühlingsnacht“ mit all ihren Hoffnungen, aber auch Schrecken und Schmerzen.
Die norwegische Autorin Hanne Ørstavik schreibt in ihrem, mehr um sie selbst drehenden Text für eine Anthologie, anlässlich des 125. Geburtstags des Schriftstellers 2022 erschienen und nun der deutschen Ausgabe als Nachwort beigegeben: „Vesaas hat seine Art und Weise, er gleitet in seine Sätze hinein, lässt die Stimmungen gleiten, folgt Nuancen und lässt sie zum Wichtigen werden, zum Sichtbaren, zu dem, was ist und was zu Veränderung führt.“
Mit diesem Band – im Übrigen wie mehrere seiner Romane einst in den 70er-Jahren verfilmt worden – bekommt die kleine Vesaas-Bibliothek einen weiteren meisterhaften Neuzugang. Doch das Reich des Norwegers ist groß – wie die Vorfreude auf weitere Perlen aus dessen literarischen Schatzkiste.
„Im Skagafjord gibt es Geistergeschichten wie Muscheln am Strand.“
Er ist ein Hüne, der nach Gammelhai stinkt und Robbenblut trinkt. Tag ein, Tag aus setzt er mit seiner Seilfähre Mensch und Tier über die Tiefen des Skagafjords. Bei Sturm und bei Sonnenschein. Im äußersten Norden Islands, dort wo die Grönlandsee das herbe Land ablöst, ist Ósmann eine Institution. Nach seinem Helden Kalmann hat Joachim B. Schmidt eine weitere besondere Gestalt zum Leben erweckt – oder sollte man vielmehr sagen: wiedererweckt.
Daphne du Maurier und ihr Haus in Menabilly, Edith Whartons Villa „The Haunt“, Toni Morrisons Hausboot: So wie Schriftstellerinnen namhaft wurden, so bekannt wurden oft auch ihre Häuser, in denen ihre Werke entstanden sind. Schreiben fordert Rückzug, formt den Drang nach einem persönlichen Raum. Über Autorinnen und ihre Schreibräume erzählt die Norwegerin Kristin Valla in ihrem Buch „Ein Raum zum Schreiben“ – verknüpft mit ihrer eigenen Suche nach einem geeigneten Ort, die sie nach Südfrankreich führte.