„Es war allerhand passiert. Die Zeit war passiert.“
Wer meinen Blog aufmerksam verfolgt, wird von meiner Leidenschaft für die skandinavische, speziell für die norwegische Literatur wissen. Wie Lars Saabye Christensen, Tomas Espedal oder Jan Kjærstad verfolgt mich auch sein Name und seine Bücher schon seit einigen Jahren: Die Rede ist von Per Petterson. „Pferde stehlen“ war der Roman, mit dem ich auf Petterson aufmerksam wurde. Vor einiger Zeit las ich „Ist schon in Ordnung“ und besprach es auch hier. Für die Reihe „Backlist“ griff ich kürzlich zu seinem jüngsten Werk mit dem Titel „Nicht mit mir“, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen – um neugierig auf die norwegische Literatur zu machen und um angesichts der Schnelllebigkeit der Buch-Branche an ein vor wenigen Jahren erschienenes Buch zu erinnern, das es wert ist, jederzeit gelesen zu werden.
Der 1952 in Oslo geborene Schriftsteller zählt zu der Riege der bekannten und erfolgreichen seines Fachs. Bereits zweimal wurde er mit dem bedeutendsten Literaturpreis seines Landes, den Brage-Pris, ausgezeichnet, 2009 erhielt er den Literaturpreis des nordischen Rates. In Pettersons Romane stehen sowohl die einfachen Menschen als auch die großen Fragen des Lebens im Mittelpunkt. So auch in „Nicht mit mir“. Erzählt wird von Tommy und Jim, die in einem kleinen Ort nahe Oslo leben. Ihre Freundschaft ist sehr eng, obwohl sie aus ganz verschiedenen Familienverhältnissen stammen. Tommys Familie ist auseinandergebrochen, nachdem die Mutter heimlich verschwunden ist und der Junge den trinkenden, prügelnden und cholerischen Vater mit einem Baseball-Schläger aus dem Haus gejagt hat, um seine jüngeren Schwestern und sich selbst zu beschützen. Die Kinder kommen zu verschiedenen Pflegeeltern, so dass mit der Zeit ihre Bindungen nahezu verloren gehen. Jim dagegen wächst behütet bei seiner Mutter auf, einer frommen Religionslehrerin.
Doch diese Freundschaft ist nicht von Dauer. Mehr als 30 Jahre später trifft der nunmehr beruflich im Finanzwesen erfolgreiche Tommy auf Jim, der auf einer Brücke angelt, um den Tag ohne Job und Verpflichtungen herumzubringen, obwohl er dank seiner Herkunft und Ausbildung die besten Voraussetzungen für ein gutes Leben gehabt hätte. Bereits als Jugendliche haben sie sich aus den Augen verloren, wissen sie wenig vom Leben und Schicksal des jeweils anderen. Diese Begegnung an einem Morgen bildet den Beginn des Romans und gleichzeitig einen Auslöser für Erinnerungen. Ein Fenster öffnet sich, das der Vergangenheit Einlass gewährt. Erinnerungen tauchen auf – an die gemeinsame Zeit, an Gespräche und Treffen, an ein Erlebnis auf einem zugefrorenen See, das beide geprägt hat. Auch der Grund für das Auseinanderdriften der Jugendlichen wird geschildert. Ein Geschehen, das in wenigen Wörtern und ohne Ankündigung erzählt wird, aber den Leser wohl schocken wird und ihm das ganze Ausmaß der Tragik vor Augen führt. Petterson ist darin ein großer Meister. Sein Schriftsteller-Herz schlägt für die einfachen Leute, für die einfachen Leben, in denen es nur wenige helle Seiten gibt, sondern vielmehr tragische Schicksale und Momente. Viele seiner Helden, nie vom Glück verfolgt, sind davon gezeichnet.
„(…) und wir waren damals so jung gewesen, man vergisst leicht, dass alles anders aussieht, wenn man jung ist, es sieht besser aus, man hat so viel Zeit, und dann wird plötzlich alles schlechter, viel schlechter, von einem Tag auf den anderen liegt die ganze Welt in Scherben.“
Das Geschehen, das zeitlich rund 40 Jahre umfasst, wird aus verschiedenen Perspektiven geschildert. Jim, Tommy und dessen Schwester Siri, die in der Schulzeit kurzzeitig mit dem Freund ihres Bruders zusammen war und später als erwachsene Frau für Hilfsorganisationen an den verschiedensten Brennpunkten der Welt arbeitet, werden zu Erzählern. Aus diesen unterschiedlichen Rückblicken entsteht ein berührendes Bild einer besonderen Freundschaft, wird auch die Themen Trennung sowie Verlassen und Verlassen werden mehrfach aus unterschiedlichen Blickwinkeln und auf verschiedenen Ebenen verhandelt. Denn nahezu jede Person dieses eindrucksvollen tiefsinnigen Kammerspiels hat die Bindung zu jemanden oder etwas verloren: Tommy seine Eltern und seine Geschwister, Jim seine Frau, seine Arbeit als Bibliothekar sowie Lebensfreude und Lebensmut. An vielen Stellen findet sich die oft gebräuchliche Wendung „Ist schon in Ordnung“, die oftmals ausdrückt, dass eben nichts in Ordnung ist, allerdings die Worte und der richtige Moment fehlen, um von sich selbst und seinen Nöten, Sorgen und Ängsten zu berichten. Eine Formulierung, die im Übrigen auch den bereits eingangs erwähnten Roman des Norwegers betitelt.
Manche werden diese Art des Erzählens womöglich als langweilig empfinden. Ich denke indes, dass jedes Leben, auch das einfache, es wert ist, erzählt zu werden. Denn in jedem Leben gibt es dramatische Geschehnisse sowie den bitteren Verlust von Freundschaften und Beziehungen, die Eingang in die Erinnerungen und damit in die Lebensgeschichte finden.
Per Petterson: „Nicht mit mir“, erschienen im Hanser Verlag, in der Übersetzung aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger; 288 Seiten, 19,90 Euro
Foto: pixabay
Von Petterson habe ich auch so gut wie alles gelesen. Ich bin übrigens von Christensens „Magnet“ total begeistert! Bin etwa in der Mitte von knapp 1000 Seiten.
Viele Grüße!
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das habe ich damals, als es neu war (so lange kann das noch nicht her sein) auch gelesen. Ich fand es wirklich sehr gut, allerdings hat es mich richtig traurig gemacht. Ich war nach der Lektüre niedergedrückt, das geht mir selten so. Ich will das aber keineswegs als Kritik an dem Buch verstanden wissen, eher im Gegenteil. Es war einfach sehr beeindruckend!
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