Zugeständnisse – Stephan Thome "Gegenspiel"

„Was sie wirklich die ganze Zeit machte, war, davon zu träumen, etwas anderes zu tun.“

Manchmal findet sich auch in Popsongs ein wenig Philosophie. Wie heißt es da ab und an so schön: „There’s always two sides of every story.“ Selbst der große, von mir sehr geschätzte Phil Collins nannte einen Titel und sein fünftes Album „Both Sides“. Auch Stephan Thome hat sich den beiden Seiten einer Geschichte gewidmet. Besser gesagt: den zwei Seiten eines gemeinsamen Lebens. Nach seinem 2012 erschienenen Roman „Fliehkräfte“ über Hartmut Hainbach, Professor für Philosophie, der während einer Pilgerreise auf Sinnsuche geht, beschreibt Thome nun die andere Seite der Geschichte und ihre Geschehnisse – aus der Sicht von Hainbachs Frau Maria. Und dabei taucht der Leser tief hinab in das frühere Leben der interessanten Protagonistin.  „Zugeständnisse – Stephan Thome "Gegenspiel"“ weiterlesen

Familiengeschichte(n) – Katja Petrowskaja "Vielleicht Esther"

„(…) ich wollte so sehr erhört werden, erprobte meine Zunge, meine Sprache, ich versuchte, die Geschichten zu erzählen, sie in mein fremdes Deutsch zu übertragen, ich erzählte die Geschichten, eine nach der anderen, aber ich hörte selbst nicht, was ich sagte.“

Unser Leben ist nichts ohne die Geschichte der eigenen Familie. Wir sind, was wir waren. Uns formen frühere Ereignisse früherer Generationen genauso wie eigene Erfahrungen. Und wenn wir in jungen Jahren nur Zuhörer sind, werden wir später selbst zu Erzählern. Katja Petrowskaja, 1970 in Kiew geboren, nach ihrem Studium in Tartu (Estland) und Moskau als Journalistin in Berlin tätig, hat diese Rolle sehr früh übernommen. Es ist eine Rolle, die man nicht leichtfertig überstreift wie einen Lieblingspullover, der einem passt und der sich bequem anfühlt. Sie ist vielmehr eine Schlangenhaut, die mit uns wächst und die man nach einiger Zeit abstreift, weil eine neue entstanden ist. „Familiengeschichte(n) – Katja Petrowskaja "Vielleicht Esther"“ weiterlesen

Verloren gegangen – Katharina Hartwell "Das fremde Meer"

„Das Leben ist ein raues, ein stürmisches, ein gefährliches, ein unendlich weites, ein wildes, viele Geheimnisse und viele Gefahren und viele Riffe beherbergendes Meer. Und es gibt nicht viele milde Tage, und es gibt viele Möglichkeiten, Schiffbruch zu erleiden. Und auf jeden Sturm folgt der nächste und auf jede Untiefe eine weitere.

Eine immer währende Sicherheit im Leben gibt es nicht. Nur der Glaube daran existiert und lässt uns vergessen, welche Schicksalsschläge und Katastrophen möglich wären. Nur so können wir jeden Tag vor die Haustür treten, jeden Tag am Abend einschlafen. Ständige Gedanken an das Nichts, an Verluste, an den Tod würden uns die Luft zum Atmen nehmen. Über diesen allmächtigen Moment des Schicksalsschlages. der einen den Boden unter den Füßen wegreißt, hat Katharina Hartwell den Roman „Das fremde Meer“ geschrieben – besser gesagt: zehn Geschichten, die sich jedoch wie ein Mosaik zusammenfügen, um das große Bild zu erschaffen. Dazu später mehr. „Verloren gegangen – Katharina Hartwell "Das fremde Meer"“ weiterlesen

Was bleibt vom Leben? – Rohinton Mistry "Das Gleichgewicht der Welt"

„Damals schien mir, dass man vom Leben nicht mehr erwarten konnte. Eine harte Straße, die mit spitzen Steinen übersät war und, wenn man Glück hatte, etwas Getreide. Später entdeckte ich, dass es verschiedene Arten von Straßen gab.“

Es herrschen Ausbeutung und Aberglauben, Unterdrückung und Willkür der Macht. Indien, das Land der Farben, bietet wenig Lebensfreude. Man schreibt das Jahr 1975. Dina, die Tochter eines Arztes, schlägt sich durch das Leben. Allein, ohne Mann, mit einem herrschsüchtigen Bruder in der Familie. Ihr Mann, mit dem sie eine glückliche Beziehung führte, starb kurz nach der Hochzeit bei einem Verkehrsunfall. Um halbwegs über die Runden zu kommen, eröffnet sie in der Wohnung eine kleine Schneiderwerkstatt und sucht Mitarbeiter. Eines Tages stehen Ishvar und sein Neffe Omprakash vor ihrer Tür. Das besondere Quartett soll wenig später Maneck, der Sohn einer Schulfreundin, vervollständigen, der in Bombay ein Studium beginnt und eine Bleibe benötigt. „Was bleibt vom Leben? – Rohinton Mistry "Das Gleichgewicht der Welt"“ weiterlesen

Flucht – Antonio Muñoz Molina "Die Nacht der Erinnerungen"

„Begeisterung und Panik wogten wie parallele Welten durch die Hitze der Nacht, in einem Fieber von Karneval und Katastrophe.“

Das Chaos zerreißt sein bisheriges Leben. Ignacio Abel, ein anerkannter Architekt und Bauhaus-Schüler, sieht sich 1936 an einem Abgrund stehen. Der Krieg hat Spanien erfasst. Die Hauptstadt Madrid wird Schauplatz des Klassenkampfes, die Gewaltspirale dreht sich und fordert unzählige Opfer. Männer, Frauen und Kinder, die durch Bomben, Straßenkämpfe und Hinrichtungen getötet werden. Mittendrin Ignacio auf der Suche nach seiner Geliebten Judith, die er ein Jahr zuvor kennengelernt hatte. Die Amerikanerin ist spurlos verschwunden, nachdem Ignacios Frau Adela dessen heimliche Beziehung entdeckte hatte und nachfolgend einen Selbstmord verübte, den sie indes überlebte. Mit den zwei Kindern zieht sich Adela in das Wochenend-Haus in den Bergen zurück. Nicht nur die erkaltete Beziehung des Paares auch Adelas Freitod-Versuch und das kritische Verhältnis zwischen ihren Eltern und ihrem Bruder Victor zu Ignacio belastet diese Ehe. „Flucht – Antonio Muñoz Molina "Die Nacht der Erinnerungen"“ weiterlesen

Rückkehr nach dem Schrecken – Irène Némirovsky "Feuer im Herbst"

„Das Kriegsgebiet hatte die Männer gepackt, hatte sie zermahlen, und diejenigen, die noch nicht gefressen worden waren, gab es nur ungern wieder her.“

Beide ziehen in den Krieg. Martial als gestandener Arzt mit Unwillen, Bernard als 18-jähriger Jungspund mit reichlich Euphorie. Martial lässt seine Ehefrau Therese zurück, die er kurz vor dem Einzug in die Armee geheiratet hatte, Bernards Eltern können ihren Sohn nicht halten. Wie Europa mit Jubel den Beginn des Ersten Weltkrieges feiert, um später nach einer beispiellosen Vernichtung von Menschen und Land Millionen von Opfern zu betrauern – darüber gibt es bekanntlich viele Bücher. „Rückkehr nach dem Schrecken – Irène Némirovsky "Feuer im Herbst"“ weiterlesen